»Z«: Russland heute: Korruption, Unterdrückung und Gewalt
Aktuell erscheinen massenhaft Bücher zu »Putins Russland«, und der unrühmliche Grund dafür ist bekannt. Auch dieses Buch ist eine gnadenlose Abrechnung mit Russland, das, so der Autor, niemals so korrupt war wie heute. Aber Olaf Kühl ist nicht irgendein Journalist oder ehemaliger Korrespondent, sondern studierter Slawist, Übersetzer russischer und polnischer Literatur und war viele Jahre Osteuropareferent der Regierenden Bürgermeister Berlins. Seine Liebe zu Land und Kultur ist bei der Lektüre deutlich spürbar. Doch es ist eine enttäuschte Liebe. In der Funktion als Osteuropareferent hat er hautnah miterlebt, wie frei denkende Diplomaten wieder durch linientreue Apparatschiks ersetzt wurden, als Putin an die Macht kam.
Kühl beschreibt eindringlich, wie die Traumatisierung durch den Afghanistankrieg zu einer Verrohung der Gesellschaft, häuslicher Gewalt und Drogensucht führte. Die abrupte Privatisierung nach Jahrzehnten der Verstaatlichung brachte ein Oligarchentum sowie extreme Einkommensunterschiede hervor. Aktuell besitzt 1 Prozent der Bevölkerung 58,6 Prozent des Vermögens. Dabei entschuldigt der Autor nichts, er analysiert nur. Doch auch Oligarchen können sich nur sicher fühlen, wenn sie putintreu sind, was die Verhaftung Chodorkowskis nach öffentlicher Kritik am Präsidenten zeigte. Kühl macht an vielen Beispielen deutlich, wie der russische Geheimdienst FSB, das organisierte Verbrechen und Putin selbst miteinander verflochten sind. Ausführlich wird auf die vier in verschiedenen russischen Städten gesprengten Wohnhäuser eingegangen, wobei 1999 kurz nach Putins Wahl rund 300 unschuldige Bürger im Schlaf starben. Für Putin stand von Anfang an fest, dass dies die Tat tschetschenischer Terroristen war, und er nutzte die Gelegenheit, sich als starker Führer zu inszenieren und den Zweiten Tschetschenienkrieg zu starten. Viele Indizien sprechen hingegen für eine Täterschaft des FSB und somit zumindest für eine Mitwisserschaft Putins. Das wäre der größte innerrussische Massenmord seit Stalin.
Eine groteske Erinnerungskultur
Stalin zu kritisieren ist seit Putins Machtübernahme übrigens ein Tabu. Die Aufarbeitung seiner Gewaltherrschaft ist nicht erwünscht, die Menschenrechtsorganisation Memorial seit 2021 verboten. Ein Aktivist, der Leichen aus einem Massengrab exhumiert und identifiziert hat, wurde zu 15 Jahren Arbeitslager verurteilt. Während die Taten Stalins verdrängt werden, wird der Opfer des Nationalsozialismus, ganz im Unterschied zur Praxis in der Ukraine und in Polen, öffentlich wahrnehmbar kaum gedacht. Vielmehr wird vor allem der Sieg über Nazideutschland mit martialischen Militärparaden gefeiert. Kühl zufolge sind diese Paraden notwendig, um das ohnehin schon gebeutelte kollektive Selbstbewusstsein aufrechtzuerhalten. Auch die Vereinheitlichung der russischen Medien war eine direkte Folge der erwähnten Anschläge. 1999 konnten wütende Bürger noch mit FSB-Offizieren in Talkshows diskutieren und sie ungestraft »Lügner« nennen. Solche Freiheiten schränkte Putin schnell ein und legte so den Grundstein für eine jahrzehntelange Propagandaschlacht gegen die Ukraine. Die Annexion der Krim, die 2014 nahtlos an die von systematischem staatlichem Doping überschattete Winterolympiade in Sotschi anschloss, war aus dieser Perspektive Balsam für das russische Ego. Bei dem Angriffskrieg 2022 sei Putin aber von Ultranationalisten falsch beraten geworden und habe ernsthaft geglaubt, er könne die Ukraine binnen einer Woche einnehmen, betont Kühl.
Der Autor seziert nicht nur die russische Gesellschaft, sondern auch den Präsidenten selbst. Laut Kühl vergrößerte Putins Habsucht die Korruptionstoleranz seiner Umgebung. Seine sexuell aggressive Ausdrucksweise färbe auf die diplomatischen Dienste ab und das Niveau des Umgangstons in Moskau sinke seit Putins Machtübernahme stetig. Zudem gebe es, so Kühl, Pädophiliegerüchte um den Präsidenten. Und Putin hat nachweislich 2006 dem damaligen israelischen Präsidenten Mosche Katzav ausrichten lassen, er bewundere diesen für dessen Tat einer zehnfachen Vergewaltigung. Putin werde im Alter gefährlicher, weil er nichts mehr zu verlieren habe, so Kühl. Er zeige sich nun als das, was er sei – ein Kriegsverbrecher und Sadist.
Olaf Kühl schließt mit der Prognose, dass die Russen sich niemals mit ihren Taten auseinandersetzen werden, wenn sie niemand dazu zwingt. Denn sie seien es nur gewöhnt, Siege zu feiern. Er wünscht Russland eine Niederlage, denn die wäre eine Erlösung für das Land, genauso wie sie seinerzeit eine Erlösung für Nazideutschland war. Kühls Buch ist ein leidenschaftliches, akkurat recherchiertes und spannend zu lesendes Porträt der derzeitigen russischen Gesellschaft unter Putin und allen zu empfehlen, die sich fragen, warum in Europa wieder Krieg herrscht.
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