»Zeit finden«: Mäandernd der Zeit nachspüren
Vom Hafen in den Park, einen Abstecher in die Bibliothek, weiter an den Strand: Die Autorin Jenny Odell mäandert durch die Gegend um ihren Wohnort in Oakland, Kalifornien. Sie beobachtet, lässt sich treiben und nimmt Eindrücke auf, wird scheinbar selbst Teil ihrer Umgebung. Natur und Stadt erscheinen nicht voneinander getrennt zu sein, alles geht ineinander über. Fotos illustrieren ihre eingeschobenen Berichte. Das Mäandernde ist im gesamten Buch Programm.
Die Autorin und Künstlerin spürt der Zeit auf unterschiedlichste Weise nach. Sie umkreist ihr Thema, zitiert aus vielen Texten und reflektiert das eigene Erleben. Während der Zeit der Corona-Pandemie, in der Odell ihr Buch schreibt, scheinen die Uhren stillzustehen. Selbst kleine Veränderungen nimmt die Autorin nun wie durch ein Brennglas wahr. Zentral ist für sie die Frage, warum trotz immer besserer Möglichkeiten, Zeit zu sparen, etwa durch Smartphone-Apps, das Gefühl vorherrscht, die Zeit rinne uns durch die Finger.
Von der Antike über die tayloristische Fabrik und das Stechuhrprinzip bis hin zum heutigen Zeitmanagement in Alltag und Berufsleben reicht der Streifzug durch die Geschichte, den dieses Buch unternimmt. Das moderne Zeitverständnis beschreibt Odell als eng mit dem Kapitalismus und dem Kolonialismus verknüpft: Wessen Zeit ist mehr wert, wessen weniger? Wer Zeit gibt und wer sie nimmt, hänge vom sozialen Status, dem Geschlecht und der Hautfarbe ab und sei damit eine Frage von Macht. So stehe Zeit nicht jedem gleichermaßen zur Verfügung und sei unterschiedlich stark fremdbestimmt.
Die Wahrnehmung von Zeit lässt sich gestalten
Odell stellt dieser Kritik die konkrete Erfahrung der Zeit gegenüber, die in Beziehung zur Umwelt tritt – wie in ihren Ausflügen um Oakland angedeutet. Zeit wird dabei nicht von der Uhr vorgegeben, sondern durch denjenigen geformt, der sie erlebt. Die Autorin zeigt an vielen Stellen wechselseitige Bezüge auf und beschreibt auch das Zeitverständnis anderer Kulturen.
Zum Klimawandel liefert Odell eine ermutigende These. Denn selbst wenn die Zeit für Veränderungen knapper werde, rase diese, so die Autorin, nicht linear auf einen bestimmten Punkt zu. Die Zeit werde immer von Mensch und Natur aktiv mitgestaltet und biete dadurch Möglichkeiten, die im aktuellen Moment nicht abzusehen seien. Die Natur ist in ihrer Vorstellung kein lebloses passives Wesen, das gerettet werden muss, sondern selbst Akteur.
Odell bemüht sich in ihrem Buch darum, die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur sowie Zeit und Raum greifbar zu machen. Immer wieder arbeitet sie sich an komplexen Zusammenhängen ab – sei es durch Selbstreflexion und Beobachtungen oder durch Einblicke in verschiedene Wissenschaftsbereiche wie Philosophie, Soziologie, Biologie oder Geologie. Sie legen nahe, dass Zeit nicht isoliert betrachtet werden kann. Diese Vielfalt ist beeindruckend, doch für den Leser ist es nicht immer leicht, der Autorin zu folgen. Wer es schafft, sich auf Odells Stil einzulassen, bekommt ein Gespür dafür, wie vielschichtig und wie eng die Zeit mit uns selbst verbunden ist.
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