»Zukunft denken«: Eine große Geschichte des planvollen Handelns
»Einmal mit alles und extra Zukunft.« Das wäre vielleicht der treffendere Titel für das jüngste Sachbuch des Big-History-Professors David Christian gewesen. Doch der Autor – oder wohl eher der Aufbau-Verlag – hat sich für das bescheidenere »Zukunft denken« entschieden, dessen Bescheidenheit sich im Untertitel dann doch verliert: »Die nächsten 100, 1000 und 1 Milliarde Jahre«. Das trifft es gut und ist doch irreführend; schwer zu sagen, wie sich der Inhalt dieses durchaus lesenswerten Buchs besser auf den Punkt bringen ließe.
Der amerikanisch-australische Historiker David Christian gilt als Begründer der Disziplin »Big History«, die Geschichte und Naturgeschichte von Evolutionsbiologie bis Astrophysik als zusammengehörig betrachtet. Sein Sachbuch »Big History« erreichte 2018 einige Bestsellerlisten. Mit »Zukunft denken« wollte Christian nun das erste, rückwärts blickende Werk durch ein nach vorne gerichtetes komplementieren. Gemessen daran holt der Autor sehr weit nach hinten aus.
Ein fachübergreifendes Werk
Philosophische und physikalische Konzepte der Zeit prägen den ersten von vier Teilen des Buchs. Danach verfolgt Christian über zwei Buchteile, wie sich das »Zukunftsdenken« von Einzellern über Pflanzen und Tieren bis zum Menschen entwickelt hat. Der Historiker betrachtet die Thermodynamik der zellbiologischen Prozesse, mit der eine Zelle ihre Umwelt vermisst und durch Rückkopplungsschleifen ihren »Zukunftsplan« verfolgt. Leserinnen und Leser lernen, wie in höheren Organismen Nervensysteme entstanden sind und wie sie funktionieren, um letztlich mit weit mehr Informationen und Handlungsoptionen, aber nach dem gleichen Prinzip wie Einzeller, eine Wunschzukunft anzusteuern. Besonders lobt Christian die menschlichen Gehirne: »Sie verbessern die Fähigkeit unserer Art, viele mögliche Zukünfte zu imaginieren, zu analysieren und zu vergleichen.« Der spätere Exkurs in Stochastik und Statistik bis hin zur KI erscheint da zwangsläufig.
Christians ausgesprochen transdisziplinärer Ansatz führt dazu, dass je nach persönlichem Vorwissen einzelne Kapitel hochspannend oder altbekannt und oberflächlich wirken können. Aber das kann man dem Autor kaum ankreiden, besteht seine Leistung doch darin, all diese Facetten zu einem großen Bild zusammenzuführen. Das gelingt fast immer interessant, anschaulich und verständlich.
Das »Zukunftsdenken« verliert er dabei nicht aus dem Blick, es bildet stets den Rahmen. So wird plausibel, weshalb Menschen früherer Zeitalter ein ganz anderes Zukunftsdenken hatten als wir heute: Die frühere Welt erschien zwar voller Wandel, doch der war zyklisch oder bewegte sich um ein Gleichgewicht herum. Im Prinzip erschien die Zukunft ziemlich unveränderlich. Außerdem spielte sich das Leben regional ab, so dass die meisten Menschen in ihrem persönlichen Zeitempfinden leben konnten: »Die Beschränkungen der Gründerzeit-Technologien sorgten dafür, dass die Menschen das Gefühl hatten, in und mit der Welt zu leben, statt sie zu beherrschen und sie zu verwandeln.«
Schritt für Schritt folgt Christian den historischen Entwicklungen der Menschheit und interpretiert, wie diese beeinflusst haben, wie die Menschen Zeit empfanden und Zukunft planten: »Die Zeit selbst veränderte ihre Form, da die Menschen sich in den neu entstehenden Netzwerken von Handel, Ritual, Kriegsführung und politischer Struktur den sozialen Rhythmen von Millionen anderen Menschen anpassen mussten.« Spannend legt der Autor dar, wie Zukunftsdenken vor allem für Herrschende machtpolitisch bedeutsam wurde und dabei Orakeln eine wachsende Rolle zukam. An dieser Stelle reist Christian mit den Lesern und Leserinnen nicht nur durch die Zeit, sondern auch durch diverse Kulturräume.
All das ist eigentlich nur Vorgeplänkel oder Hintergrund. Worum es dem Autor wohl vorrangig geht, ist die heutige Gegenwart, in der die Menschheit über ihre Zukunft entscheiden muss. Dieser Teil kommt angesichts des Titels unerwartet spät und er verortet es in einem anderen Genre: In seinem letzten Viertel wird »Zukunft denken« zu einem Nachhaltigkeitsplädoyer. Angesichts des heutigen Forschungsstands in Ökologie, Soziologie und Ökonomie erzählt Christian vielen Menschen nichts Neues: Klimakrise, Artensterben, soziale Ungleichheit, Wachstumsfixierung, Massenvernichtungswaffen – all das drohe zum Kollaps der Menschheit zu führen. Erfrischend ist jedoch die umfassende historische Einbettung, aus der heraus er argumentiert.
Der Autor zeigt sich optimistisch: »Die Möglichkeit, genug zu essen zu haben, zu spielen, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen, frei von übermäßigem Stress zu sein – das sind Bedürfnisse, die von allen Menschen geteilt werden.« Mit den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung sieht Christian wichtige Grundlagen gelegt. Doch er bleibt wissenschaftlich nüchtern und präsentiert abschließend mögliche positive wie katastrophale Zukunftsszenarien für dieses Jahrhundert, aber auch für die ferne Zukunft der Menschheit, samt seiner Einschätzungen. Die letzten Seiten lesen sich dann fast wie Sciencefiction – aber die trägt das »Science« ja nicht grundlos im Namen.
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