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Nationale Kleinstaaten als Lösung?

Der Soziologe Wolfgang Streeck untersucht die Folgen des Neoliberalismus und erörtert, wie man das kapitalistische Wirtschaftssystem unter demokratische Kontrolle stellen kann.

Wirtschafts- und Finanzkrisen, Brexit, niedrige Wahlbeteiligungen, gesellschaftliche Spaltungen, Populismus, die immer schärfer werdende Kluft zwischen Arm und Reich und ein Vertrauensverlust in die Demokratie: Das sind nur einige Konflikte, die unsere moderne Welt prägen und die dringend gelöst werden müssen. Wer nicht nur die Symptome behandeln will, muss ihre Ursachen ausmachen.

Das Versprechen »Wohlstand für alle« ist gescheitert

Dieses Ziel verfolgt der Soziologe Wolfgang Streeck (* 1946), der bis 2014 Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln war. Er sieht die Ursachen in einem entfesselten neoliberalen Kapitalismus. Die Versprechung vom »Wohlstand für alle« habe sich durch die Globalisierung nicht bewahrheitet, vielmehr habe er selbst sich immer mehr einer demokratischen Kontrolle entzogen. In seinem aktuellen Buch befasst sich Streeck mit den Krisen des Neoliberalismus, der Integration und Differenzierung der europäischen Staatenwelt, untersucht die Grenzen von Großstaatlichkeit sowie den – seiner Ansicht nach – gescheiterten »Superstaat« Europa.

Streeck argumentiert, der Neoliberalismus der vergangenen Jahrzehnte habe versucht, die Nationalstaaten durch die internationalen Strukturen einer »global governance« abzulösen. Doch der Kapitalismus weise vor allem seit 2008 viele Krisen auf und funktioniere nur noch unter »geldschöpferischer Notbeatmung«. Außerdem entmündige die Macht von Experten und Markt die Bürgerinnen und Bürger, deren Mehrheit man nicht zutraue, mit komplexen Problemen sachgerecht umzugehen. Die Konsequenz seien linke wie rechte Gegenbewegungen in den europäischen Ländern. Sie kämpften aus seiner Sicht für eine Rückgewinnung demokratischer Kontrolle und hielten dabei an vielen nationalstaatlichen Kompromissen zwischen Kapitalismus und Gesellschaft fest. Die Situation sei verfahren, das System blockiert.

Dabei könne der Ansatz einer »global governance« gar nicht funktionieren. Streeck weist darauf hin, die Größe des geografischen Gebiets bringe umfangreiche politische und wirtschaftliche Sachfragen mit sich, die für zentralistische Entscheidungen zu komplex seien. Zudem bestehe die Gefahr, dass sich Zentralregierungen großer Staaten nach innen undemokratisch gebärden und nach außen dazu tendieren, ihre Macht gegenüber anderen auszuspielen.

Die aktuelle Situation bezeichnet Streeck sogar als »Interregnum«, das eine Grundsatzentscheidung zur Lösung der neoliberalen Konflikte erfordere. Unter Bezug auf Arbeiten des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlers Karl Polanyi (1886–1964) über Möglichkeiten zur Bändigung des Kapitalismus, des britischen Historikers Edward Gibbon (1737–1794) über den Untergang des Römischen Reichs sowie des Wirtschaftswissenschaftlers John Maynard Keynes (1883–1946) plädiert der Autor für eine multizentrische Welt aus kleinen Nationalstaaten. Diese würden untereinander eine ausgewogene Machtpolitik verfolgen und könnten die Wirtschaft in ein funktionierendes pluralistisch-demokratisches System einbetten. Das zu regierende Territorium sei kleiner und daher weniger komplex, so dass es die Regierungen nicht überfordere.

Damit liefert Streeck einen geradezu utopischen Entwurf. Er gibt sich nicht damit zufrieden, Lösungen für einzelne Krisen vorzuschlagen, was bloß die Symptome behandeln würde. Vielmehr will er das vermeintliche Übel radikal kurieren.

Doch auch wenn die vorgeschlagene Kleinstaatlichkeit das Regieren nach innen vereinfacht, entsteht eine neue Komplexität politischer und ökonomischer Verhältnisse bei Abstimmungsprozessen und Bündniskonstellationen nach außen. Was wäre also dadurch gewonnen? Nicht alle Krisen und Konflikte lassen sich auf engstem Raum oder in Kooperation mit ein paar Nachbarstaaten lösen. Man denke dabei nur an den Klimawandel oder die Durchsetzung von Menschenrechten. Ferner stellt sich die Frage, ob sich Europa so eine kleinstaatliche Lösung angesichts der Konkurrenz zu wirtschaftlichen und geopolitischen Schwergewichten wie den USA, China oder Russland überhaupt leisten kann. Auch kann man die praktische Übertragbarkeit der vorgeschlagenen Lösung auf andere Teile der Welt stark bezweifeln.

Streeck hat sicher Recht mit seiner Kritik, Expertokratie und Marktherrschaft würden dem demokratischen Vertrauensverlust Vorschub leisten. Doch der 2016 populistisch, mit Halb- und Unwahrheiten geführte Brexit-Wahlkampf in Großbritannien stärkt nicht gerade das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Bevölkerung bei komplexen Fragen.

Insgesamt befremdet das Plädoyer für kleine Nationalstaaten. Denn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es gerade ein außer Rand und Band geratener Nationalismus, der zu undemokratischen Entwicklungen, Konflikten und letztlich zu zwei verheerenden Weltkriegen geführt hat. Das europäische Zusammenwachsen seit Beginn der 1950er Jahre ist die Konsequenz, um den Nationalismus zu bändigen. Kleinstaaterei auf europäischem Boden würde diese Entwicklung wieder zunichtemachen. Nicht zuletzt versuchen auch populistisch-nationalistische Strömungen das Vertrauen in ein geeintes Europa sowie in demokratische Institutionen zu untergraben – und das durchaus erfolgreich. Wohin diese Form der Gegenbewegung führen kann, zeigen die Entwicklung der USA und Brasiliens sowie Ungarns und Polens.

Doch selbst wenn man die Schlussfolgerungen Streecks nicht teilt, hat er einen provokanten, auf hohem Niveau argumentierenden Diskussionsbeitrag zur aktuellen Situation der wirtschaftlichen Globalisierung und ihrem Verhältnis zur Demokratie vorgelegt. Er wendet sich damit an politik- sowie wirtschaftstheoretisch interessierte Leser, die Lösungen suchen.

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