Ross und Reiter aus Papier
Das Wort »Papierfalten« wird heute meist japanisch ausgesprochen: Origami. Das ist die traditionsreiche Kunst, aus einem einzigen quadratischen Blatt Papier die unglaublichsten Formen herzustellen. Schere und Klebstoff sind ebenso tabu wie jegliche zeichnerischen Hilfsmittel. Man findet sämtliche neuen Faltlinien nur mit Hilfe bereits vorgenommener Faltungen. In jüngerer Zeit haben Mathematiker das Origami als geometrische Konstruktionsmethode entdeckt und festgestellt, dass man durch fortgesetztes Falten sogar mehr Punkte finden kann als mit Zirkel und Lineal (Spektrum September 2015, S. 64).
Wenn es darüber hinaus um regelmäßige räumliche Körper geht, bestehen auch die Puristen nicht mehr darauf, das ganze Ding aus einem einzigen Blatt Papier zu machen. Vielmehr falten sie aus einem Quadrat ein »Modul«, das heißt ein Teilstück des Körpers. Da das Endprodukt sehr regelmäßig ist, genügt es, ein oder allenfalls zwei verschiedene Module in großen Stückzahlen zu fertigen und dann ineinanderzustecken. Damit das ohne Klebstoff zusammenhält, müssen die Module mit Laschen und Taschen ausgestattet sein, also mit vorspringenden Teilen und Hohlräumen, in die man Erstere einschieben kann. Das erfordert einen nicht unerheblichen Faltaufwand. Modulares Origami hat es auch außerhalb Japans zu großer Beliebtheit gebracht; das Internet bietet eine Fülle von Bildern der raffiniertesten Kreationen samt Bauanleitungen.
Flächner ohne Flächen
Auf den ersten Blick sehen die »Faltpolyeder« des vorliegenden Buchs wie modulares Origami aus. Aber das stimmt nicht so ganz. Ja, auch der Autor Alexander Heinz setzt seine Polyeder aus Modulen zusammen; und ja, man muss sich mit dem Gedanken anfreunden, dass das Wichtigste an einem Polyeder nicht unbedingt die Seitenflächen sind – etwas gewöhnungsbedürftig, denn die ebenen Seitenflächen sind die definierende Eigenschaft eines solchen Körpers. Auch bei manchen modularen Origami-Polyedern sind nur die Ecken und – vielleicht – die Kanten ausgeführt, was eine durchbrochene Struktur mit durchaus eigenem ästhetischen Reiz ergibt.
Aber im Gegensatz zu den anspruchsvollen Papierkünstlern setzt Heinz auf radikale Einfachheit. Eines seiner Module besteht aus zwei gleich großen Quadraten, Mittelpunkt auf Mittelpunkt gelegt und das eine gegen das andere um 45 Grad verdreht. Heinz nennt sie Ross und Reiter, denn das obere Quadrat umklammert das untere, indem man seine überstehenden Ecken um das untere faltet, so wie der Reiter seine Füße unter das Pferd – na ja, der Vergleich hinkt ein wenig. Nun faltet man noch Ross und Reiter entlang der gemeinsamen Symmetrielinien abwechselnd auf- und abwärts, und fertig ist das Modul. Jedes von ihnen vertritt eine Ecke im fertigen Körper.
Ross und Reiter müssen Vielecke mit so vielen Seiten sein, wie von der zugehörigen Ecke Kanten ausgehen. Daher eignet sich das Modul aus zwei Quadraten zum Beispiel für das Oktaeder. Für Tetraeder, Würfel und Dodekaeder, in deren Ecken sich jeweils drei Kanten treffen, sind Module aus zwei Dreiecken angesagt. Und schon weicht die Form des Rohmaterials vom japanischen Reinheitsgebot ab; für Polyeder, in deren Ecken noch mehr Kanten zusammenlaufen, müssen es Fünf-, Sechs- oder Achtecke sein.
Die Ecken des Moduls sind Laschen und Taschen zugleich: Man setzt den fertigen Körper zusammen, indem man eine – mittig gefaltete – Ecke vom Ross zwischen Ross und Reiter vom Nachbarmodul schiebt. Das hält ziemlich gut; nur für die kompliziertesten Modelle empfiehlt der Autor einen Tropfen Klebstoff, um dem Zusammenhalt nachzuhelfen.
Bei einem Polyeder ist die Summe aller flächeninternen Winkel, die einer Ecke anliegen, stets kleiner als 360 Grad (sonst wäre es keine Ecke). Das Papierstück hat aber rund um seinen Mittelpunkt genau 360 Grad und damit einen Winkelüberschuss, den man durch geeignetes Falten aus dem Weg schaffen muss. Das gelingt ohne Weiteres bei den stumpfen Ecken von Ikosaeder und Dodekaeder, gerade noch beim Oktaeder und nur mit zusätzlichen Faltungen bei Würfel und Tetraeder. Ausgerechnet die einfachsten platonischen Körper erfordern daher noch spezielle Tricks.
Alexander Heinz, gelernter Buchbinder und vielseitiger Geometriekünstler, präsentiert uns in seinem Buch reichlich 50 Polyeder, darunter die üblichen Verdächtigen wie platonische und archimedische Körper, die er nicht nur sämtlich selbst gebaut, sondern auch fotografiert und mit ausführlichen Anleitungen versehen hat. Insgesamt ist aus der vielen Arbeit ein überaus ansprechendes Werk geworden.
Jedem Modell hat der Autor eine Schätzung für den Zeitaufwand beigegeben, die mir nach eigenen Versuchen ziemlich realistisch erscheint. Demnach wäre mehrere hundert Stunden beschäftigt, wer das ganze Sortiment nachbauen wollte. Für Menschen wie mich, die schon für ein einziges Objekt des klassischen modularen Origami nicht genug Geduld aufbringen, sind eher die letzten Seiten interessant. Dort gibt der Autor Anregungen, wie man die Module als verallgemeinerte Bauklötze nutzen kann, um mit wenig Aufwand neue, noch unbeschriebene Objekte herzustellen.
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