Vom Leben enttäuscht
Unangenehme Gefühle gibt es viele. Verbitterung ist auf Dauer vielleicht das am stärksten zerstörerische. Sie entsteht, wenn wir uns fundamental hintergangen, ungerecht behandelt oder gekränkt fühlen. Schicksalsschläge wie eine Trennung oder Kündigung können uns aber nur im Kern treffen, wenn wir in diesen Lebensbereich all unsere Hoffnungen gelegt haben. Für manche ist das die Familie, für andere die Karriere, so die Autoren. Der Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut Michael Linden leitet an der Berliner Charité die Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation und ist ärztlicher Weiterbildungsleiter am Institut für Verhaltenstherapie in Berlin. Gemeinsam mit Mental- und Wellnesstrainerin Sigrid Engelbrecht widmet er sich in diesem gelungenen Buch den Ursachen, Symptomen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Verbitterung.
Mit seinen vielen Fallbeispielen und der lebhaften Sprache ist der Band anschaulich und auch für Laien bestens verständlich. Er ist nicht nur ein Ratgeber für Betroffene, sondern eine bereichernde Lektüre für jeden, der mit den großen und kleinen Enttäuschungen des Lebens umgehen muss. Typisch für eine echte Verbitterung ist, dass die Betroffenen selbst Jahre später noch wahnhaft auf das Problem fixiert sind. Dabei können sie ganz klar einen Schuldigen ausmachen und ergehen sich mitunter sogar in Rachefantasien.
Ausgeprägter Lebensüberdruss
Auch für die klinische Psychologie ist die pathologische Bitterkeit relevant: als so genannte posttraumatische Verbitterungsstörung. Zwar ist sie in der aktuellen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation ICD-10 nicht als eigenständige Erkrankung aufgeführt (und für den für 2018 angekündigten ICD-11 ebenfalls nicht vorgesehen), Therapeuten können sie aber als "sonstige Reaktion auf schwere Belastung" diagnostizieren. Betroffene leiden unter ungewollten, wiederkehrenden Erinnerungen an das auslösende Erlebnis, sind depressiv, häufig aggressiv, sehen sich selbst als Opfer und lehnen Hilfe meist vehement ab. Der Lebensüberdruss kann bis in den Suizid führen.
Als Behandlung schlägt Linden eine so genannte Weisheitstherapie vor. Hier sollen die Verbitterten erkennen, dass das ewige Hadern dem eigenen Wohl im Weg steht, ihr Problem aus einem neuen Blickwinkel betrachten lernen und die Vergangenheit schließlich auf sich beruhen lassen.
Leider machen die Autoren kaum Angaben zur Wirksamkeit der Therapie und dem Forschungsstand im Allgemeinen, obwohl Michael Linden selbst als einer der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet gilt. Tatsächlich steht die Erforschung der pathologischen Verbitterung und deren Therapiemöglichkeiten noch ganz am Anfang.
Bitterkeit betrifft jedoch nicht nur Einzelne, sondern auch ganze Kollektive, so Linden und Engelbrecht. Fühlten sich gewisse Gruppen systematisch benachteiligt und herabgewürdigt, könne dies zu einem gemeinsamen Feindbild und Hass gegenüber den vermeintlich Schuldigen führen. Mögliche Folgen: Protestwahlen und Radikalisierung bis hin zum Krieg.
Als Positivbeispiel für die Auflösung eines verbitterten Wir-Gefühls nennen die Autoren die Überwindung der Apartheid in Südafrika. Dafür machen sie vor allem die Weisheit des Aktivisten Nelson Mandela verantwortlich, der – statt zum Gegenschlag auszuholen – auf Versöhnung und Dialog setzte. Vergeben heißt eben nicht automatisch vergessen, kann allerdings den Weg in eine bessere Zukunft frei machen.
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