Odyssee in den Wahnsinn
Die Neurowissenschaftlerin Barbara Lipska erforscht seit Jahrzehnten die Funktionsweise des Gehirns. Als Leiterin des Human Brain Collection Core am National Institute of Mental Health der USA interessiert sie sich vor allem für psychische Störungen wie Schizophrenie, die sie unter anderem an Ratten künstlich auslöst. Eines Tages jedoch veränderte sich ihr eigenes Wesen: Ein längst geheilt geglaubter Hautkrebs hatte in ihr Gehirn gestreut, wodurch sie einen tief greifenden Persönlichkeitswandel erfuhr.
Ihre Erlebnisse während des 60-tägigen Ausflugs in den Wahnsinn fasste sie gemeinsam mit der Journalistin Elaine McArdle in diesem gleichermaßen spannenden wie bewegenden Buch zusammen. Darin berichtet sie, wie sie nach und nach die Orientierung verlor, ihre Familie verletzte und misstrauisch gegen alles und jeden wurde. Man erfährt von Operationen und Immuntherapien, bedrückenden Zeiten der Ungewissheit und aufflackernden Hoffnungsschimmern.
Strahlefrau-Fassade
Diese Einblicke sind eindrucksvoll und mitreißend. Doch leider haftet dem Buch ein Ruch von Selbstlob an. Lipska stellt sich und ihre Familie fast schon penetrant als überdurchschnittlich sportlich, ehrgeizig, erfolgreich und liebenswert dar. Es wirkt gar so, als sei ihre Leistungsfähigkeit das eigentliche Thema der Geschichte.
Die Autorin gesteht sich – und damit dem Publikum – keinerlei Schwäche ein. Ein Beispiel dafür ist die Schilderung einer ihrer ersten »Niederlagen«: Sie und ihr Mann kaufen sich auf dem Rückweg von der ambulanten Krebsbehandlung eine Fertigpizza. Dabei, so heißt es in dem Buch, sei sie »eine begeisterte Köchin (…), egal wie mein Tag war, egal ob ich gerade eine Chemotherapie gegen Brustkrebs mache, mich von einer Brustamputation oder Gehirnoperation erhole. Nach jedem Marathon und Triathlon (…) bin ich glückstrahlend nach Hause zurückgekehrt, um uns etwas zu kochen.« So geht es immerfort.
Es stellt sich die Frage, an wen sich das Werk richtet. Für Krebspatienten, denen der Sinn weder nach Marathon noch nach Kochorgien steht, sind Lipskas heroische Schilderungen wenig hilfreich. Denn eine Energie, wie sie die Autorin (angeblich) hat, dürfte wohl kaum jemand aufbringen können, nicht einmal Gesunde. Die Autorin vermittelt gar den Eindruck, Trauer, Müdigkeit und Erschöpfung seien etwas Verwerfliches.
Ein echtes Fachbuch ist der Band ebenfalls nicht, denn man erfährt enttäuschend wenig über Lipskas eigentliches Forschungsobjekt: das Gehirn. Auch die Mechanismen der Heilung bleiben weitestgehend unklar. Letztlich handelt es sich um eine packende Fallgeschichte im Romanstil, gespickt mit einer ordentlichen Portion Heldinnentum.
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