Modelle des Universums
Universumsmodelle gibt es viele, und John Barrows "Buch der Universen" hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, sie mit einigem Anspruch auf Vollständigkeit allgemein verständlich Revue passieren zu lassen. Das Ergebnis ist eine Reise, die von altgriechischen Weltmodellen bis zu den aktuellen Problemen der Quantengravitation führt. Der Schwerpunkt liegt bei der allgemeinen Relativitätstheorie Albert Einsteins – einer Theorie mit der Eigenschaft, dass jedes ihrer Modelle bereits eine komplette Welt inklusive Raum und Zeit, sprich: ein Universum ist.
Wer andere populärwissenschaftliche Bücher astronomisch-kosmologischen Einschlags kennt, wird einer Reihe alter Bekannter begegnen: Von den Kristallschalen des Aristoteles bis zum ptolemäischen und dann dem kopernikanischen Weltbild handelt Barrow die Grundlagen unserer erdgebundenen Sicht auf den Kosmos ab; am anderen Ende des historischen Bogens nimmt dann natürlich auch die moderne Kosmologie inklusive Inflation und Dunkler Energie breiten Raum ein.
Aber die üblichen Verdächtigen bilden eben nur einen kleinen Ausschnitt aus der Geschichte der kosmologischen Modellbildung. Die große Stärke des "Buchs der Universen" besteht darin, dass es sich eben nicht auf diesen Ausschnitt beschränkt. Stattdessen erhält der interessierte Leser einen Überblick über den Grenzbereich von Relativitätstheorie und theoretischer Kosmologie, wie ich ihn in dieser Breite von keinem anderen allgemein verständlichen Buch kenne: Tolmans Arbeiten zu oszillierenden Universen, Milnes Weltmodelle, Diracs veränderliche Gravitationskonstante, die Bianchi-Klassifikation: Barrows Buch behandelt zahlreiche Modelluniversen, die in den üblichen Darstellungen außen vor bleiben.
So entsteht ein Bild der Vielfalt der Erklärungsversuche: Modelle, die bei einer bestimmten Datenlage ihre Berechtigung als ernsthafte Kandidaten zur Erklärung unseres Kosmos hatten, bevor sie durch neuere Daten widerlegt wurden, haben hier ebenso ihren Auftritt wie andere, die, mehr theoretischer Natur, grundlegende Eigenschaften der in Einsteins Theorie überhaupt möglichen Welten aufzeigen. Wer nur von dem heute allgemein akzeptierten Modell des expandierenden Kosmos mit Dunkler Energie ausgeht und schmalspurig dessen Historie zurückverfolgt, sieht nur einen kleinen Ausschnitt der theoretischen Kosmologie. Barrow zeigt sie in ihrer ganzen beeindruckenden Breite.
An vielen Ecken und Enden zeigt sich die Sorgfalt, mit der Barrow seinen Text geschrieben hat. Ein schönes Einzelbeispiel ist die grafische Darstellung der verschieden dichten Friedmann-Lemaître-Universen mit unterschiedlich großer kosmologischer Konstante (nach einem Übersichtsartikel von Harrington); ein weiteres die sorgfältige Behandlung des Begriffs der Singularität: Singularitäten sind eben doch etwas anderes als "Punkte, an denen die Dichte unendlich groß wird".
Vom Anspruch und vom Erzähltempo her ist das Buch durchaus allgemein verständlich (und die für Barrows Bücher typischen Zitate zu Beginn der meisten Abschnitte tun das ihrige, den Text aufzulockern). Allerdings zieht das Darstellungstempo gegen Ende merklich an; darunter leidet zwar nicht die Verständlichkeit, aber zumindest für mich lesen sich die entsprechenden Kapitel weniger spannend als die vorangehenden – ich habe den Eindruck, dass Barrow seinen Anspruch, den Leser tatsächlich Struktur und Zusammenhänge verstehen zu lassen, in diesen Kapiteln zurückschraubt, und dass die Kapitel gewonnen hätten, wenn er die zu Grunde liegenden Konzepten hier ähnlich ausführlich erklärt hätte wie, um ein Beispiel zu nennen, die scheinbaren Bahnen der Himmelskörper ganz zu Anfang des Buchs.
Das Engagement von Carl Freytag, der die insgesamt gelungene deutsche Übersetzung angefertigt hat, zeigt sich nicht zuletzt in einer Reihe hilfreicher "Anm. d. Übersetzers", die vornehmlich der Erklärung von Anspielungen und Querbezügen dienen und dazu gerne auch geeignete YouTube-Links nutzen. Wermutstropfen sind eine Reihe Schnitzer bei der Übersetzung, denen eine Fachredaktion durchaus gutgetan hätte; andererseits darf man ein Dutzend Holprigkeiten auf 350 Seiten Text natürlich nicht überbewerten.
Insgesamt ist Barrows Buch allen Lesern zu empfehlen, die sich einen Überblick über die kosmologische Modellbildung verschaffen möchten, über den Weg, der zum heutigen Standardmodell geführt hat, ebenso wie über die Sackgassen, Umleitungen und Nebenstraßen, die Teil der ganz und gar nicht geradlinigen Entwicklung unserer Vorstellungen vom Universum sind.
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