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Zeitreise zum Bewusstsein

Was wäre, wenn Immanuel Kant (1724-1804), einer der berühmtesten deutschen Philosophen, heute leben würde? Für den an der University of Ottawa (Kanada) tätigen Neurophilosophen Georg Northoff besteht kein Zweifel daran, dass Kant eine Antwort auf eine der großen philosophischen Fragen suchen würde: Wie entsteht Bewusstsein? Deshalb würde sich der Doyen des deutschen Idealismus in der Jetztzeit wohl auch sehr für die Neurowissenschaften interessieren. Schließlich vermuten viele Hirnforscher den Sitz des Bewusstseins in den Windungen unseres Denkorgans.

Northoff nähert sich dem Thema in Form eines Gedankenexperiments: Im ersten Teil seines Buchs katapultiert er einen rastalockigen Studenten in einem grellen T – Shirt mit dem Aufdruck "Am I conscious?" in eine Vorlesung Kants in Königsberg Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Leser wird so mit den Grundzügen von Kants Bewusstseinsphilosophie vertraut gemacht. Dieser sehe etwa das Ich ebenso wie Descartes als zentralen Ort des Bewusstseins, verwahre sich aber dagegen, dass (wie der Franzose annahm) eine Seele als Sitz des Ichs existiert.

Dies beschreibt Northoff durchaus witzig – zum Beispiel entdeckt Kant, als er abends leicht angetrunken nach Hause wankt, dass Wahrnehmung bistabil sein kann. So ist es auch bei den heute allseits bekannten Kippbildern, auf denen wir etwa mal eine Vase, mal Gesichter sehen. Nicht die Objekte selbst, sondern unser Verstand sei für die einheitliche Wahrnehmung der Dinge verantwortlich, schließt der Philosoph daraus. An vielen Stellen wirkt die Einführung in das Denken des Königsberger Geistesheroen aber leider etwas redundant, der Humor ein wenig bemüht.

Nach einem guten Viertel des Buchs reist Kant dann in die Gegenwart und besucht mit seinem studentischen Gesprächspartner eine imaginäre Konferenz, auf der sich die Crème de la Crème der modernen Hirnforschung versammelt. Und hier kommt Northoff erst so richtig in Fahrt. Student und Philosoph hören sich verschiedene Vorträge an, treffen auf dem Gang auch mal den ein oder anderen Neurowissenschaftler. Der Leser lernt auf diese Weise aktuelle Theorien zum Zusammenhang von Gehirn und Bewusstsein kennen, beispielsweise Wolf Singers "Binding by Synchronisation" oder Semir Zekis Theorie vom Mikro – und Makrobewusstsein.

Doch Northoff begnügt sich nicht damit, die Theorien zu beschreiben. Er lässt Kant die Vorträge nicht nur hören, sondern kritisch hinterfragen: Gemeinsam mit dem Studenten, der stets auf der Seite der Hirnforscher steht, geht er den Untersuchungsergebnissen auf den Grund. Was bedeuten sie für das Bewusstsein? Und behandeln sie wirklich das "pure, reine Bewusstsein", wie Kant es nennt, oder vielmehr nur die Beziehung zwischen äußeren Eindrücken und Gehirn? Dieses permanente Einordnen, das Herstellen von Verbindungen zwischen den verschiedenen Befunden ist es, was das Buch in besonderem Maß auszeichnet.

Natürlich spiegeln sich Northoffs eigene Ansichten in diesen Bezügen. Störend wirkt das jedoch nicht. Auch bleibt die Sprache immer anschaulich – der Autor findet wunderbare Metaphern, um abstrakte Sachverhalte bildlich darzustellen. Die Entstehung des Bewusstseins mit der Zubereitung eines Schmorbratens zu vergleichen – geht das? Und ob! Dieses Buch zeigt, wie.

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  • Quellen
Gehirn&Geist 10/2012

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