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Lustvolle Ethik

Mein sechsjähriger Sohn Max pflegt sich den Mund bis zur Kapazitätsgrenze vollzustopfen – und manchmal darüber hinaus –, wenn es etwas Leckeres wie zum Beispiel ein fettes Hühnerbein gibt, und verzehrt mit Genuss die Produkte seiner Nase.

Wir werden ihm so etwas abgewöhnen müssen, aber das fällt nicht leicht. Erstens ist es eine Wonne anzusehen, wie der Junge seinen Spaß hat. Zweitens steht das Argument, er störe das Empfinden anderer, auf wackligen Beinen: Die brauchen ja nicht hinzuschauen. Und drittens hat Max einen echten Philosophen auf seiner Seite. Der emeritierte Wissenschaftstheoretiker Bernulf Kanitscheider argumentiert auf 300 Seiten für den Hedonismus, die Ethik, welche die eigene Lust zum höchsten Ziel allen Handelns erhebt.

Die Idee ist nicht grundsätzlich neu. Unter den Griechen der Antike war sie durchaus verbreitet, am klarsten ausgedrückt nicht etwa von dem sprichwörtlichen Epikur, dem es eher um die Seelenruhe als die Lust an sich ging, sondern von seinem Kollegen Aristipp von Kyrene. Heute aber gilt sie als anrüchig oder zumindest minderwertig. Der Standardphilosoph pflegt statt der Lust die Tugend zum höchsten Lebensziel zu erklären, oder wenigstens die Vervollkommnung des menschlichen Verstands. Und da es ihm um ewige, von jeder Beobachtung unabhängige Wahrheiten geht, muss ihm der Hedonismus schon deswegen suspekt sein, weil dieser sich auf eine empirische Beobachtung stützt: dass alle Menschen nach angenehmen Empfindungen streben und unangenehme zu vermeiden trachten.

Na ja: Ich kann damit leben, dass die Hedonisten bei der Beantwortung der Philosophenfrage "Was soll ich tun?" auf die letzte Klärung der Frage "Was kann ich wissen?" verzichten. Immerhin gibt es kaum eine Beobachtung über Menschen, die besser belegt ist als diese.

Kanitscheider hat auch gegen die Vervollkommnung des menschlichen Verstands nichts einzuwenden, ganz im Gegenteil. Aber er stuft sie nicht als Ziel menschlichen Strebens ein, sondern als Mittel – für ein angenehmes Leben natürlich. Schon für dessen Finanzierung ist es hilfreich, wenn man seinen Verstand Gewinn bringend einsetzen kann; Bildung verhilft einem auch zu Freuden, die dem Hedonisten, der sich mit dem Vergnügen von Bier und Chips vorm Fernseher zufriedengibt, verschlossen bleiben; und vor allem bedarf die größte Quelle der Lust, die Sexualität, der bewussten Kontrolle. Insofern gesteht Kanitscheider dem Verstand durchaus eine bestimmende Rolle zu. Nur zu sorgfältig kontrollierten Gelegenheiten darf er sie vorübergehend abgeben; denn der Hedonist möchte sich die Lusterlebnisse, bei denen es darauf ankommt, dass man den Verstand verliert, nicht prinzipiell versagen.

Auch gegen ein tugendhaftes Leben hat Kanitscheider keine grundsätzlichen Einwände. Er verwendet allerdings wesentliche Teile seines Buchs darauf, über die sauertöpfischen, lustfeindlichen und pflichtbetonten Kollegen herzuziehen, die über die Jahrhunderte gesehen die erdrückende Mehrheit in seiner Zunft ausmachen. Zu allem Überfluss eigne sich Pflichtethik zur Begründung von Staatstreue und militärischem Gehorsam, während einem Genussmenschen die Begeisterung für kriegerische Abenteuer prinzipiell fremd sei.

Letzteres ist empirisch allerdings ausgesprochen schlecht begründet. Die Franzosen, kultivierte Genießer par excellence, und die Amerikaner, die den Hedonismus ("pursuit of happiness") sogar an prominenter Stelle in ihre Unabhängigkeitserklärung geschrieben haben, waren nicht weniger kriegerisch als die pflichtgesteuerten Preußen.

Nicht neu, aber köstlich zu lesen ist Kanitscheiders Polemik gegen die Leute, die ihren Mitmenschen ausgerechnet das Vergnügen aufs Strengste reglementieren, über das sie selbst sich von Berufs wegen im Stand der Unkenntnis zu befinden haben: die Kleriker. Das waren noch Zeiten, als die Päpste sich die notwendige Sachkenntnis mit Hilfe ihrer Kurtisanen aneignen konnten! Welch Ironie der Geschichte, dass just Martin Luther, der Mensch, der für die "Freiheit eines Christenmenschen" kämpfte, sie nötigte, sich wieder streng an die lustfeindlichen Vorgaben der Kirchenväter zu halten.

Es ist allerdings nicht unproblematisch, dass Kanitscheider der Tugend eine untergeordnete Rolle zuweist. Der kluge Hedonist "strebt … das Wohlwollen und die Freundschaft mit allen Mitmenschen an, aber nicht, weil es für diese Tugenden irgendeine metaphysische Begründung gäbe, sondern weil rein pragmatisch das Leben in einer wohlwollenden Umgebung am angenehmsten ist." Nur seine unklugen Gesinnungsgenossen, die nicht begriffen haben, dass eine mit unlauteren Mitteln erlangte Annehmlichkeit auf die Dauer nicht so angenehm ist, muss man durch Vorschriften daran hindern, anderen Schaden zuzufügen.

Ganz so krass hält der Autor die Abwertung der Tugend zu einer abgeleiteten Größe dann doch nicht aufrecht. Der Hedonist, den er sich vorstellt, würde sich sein Vergnügen auch dann nicht auf unehrliche Weise verschaffen, wenn er sicher sein kann, nicht dabei erwischt zu werden. Aber richtig treffende Argumente gegen ein solches Verhalten führt Kanitscheider nicht an.

Selbst gegen die grausamen Mittel, mit denen die Romanfiguren des Marquis de Sade sich ihr Vergnügen verschaffen, hat er nur etwas sehr Abstraktes vorzubringen: De Sade verkennt, dass eine Einteilung der Menschen in Höher- und Minderwertige, sprich Quäler und Quälbare, nach allem, was die Wissenschaft dazu beizutragen hat, nicht begründbar ist. Demnach müsste jeder, der das Misshandeln befürwortet, damit rechnen, sich in der Rolle des Misshandelten oder gar Getöteten wiederzufinden, was hedonistischen Zielen zweifellos abträglich ist.

Aber der Irrglaube, es gebe höherund minderwertige Menschen, ist weit verbreitet. Selbst der von Kanitscheider gepriesene Epikur hing ihm an, denn er hielt sich Sklaven, wie damals allgemein üblich. Ein Hedonist hätte gegenüber den zahlreichen Anhängern dieses Irrglaubens kein Argument gegen sadistische Praktiken – an Untermenschen, versteht sich – in der Hand.

Mehr noch: Tugendhaftes Verhalten ist zwar den Zielen des Hedonismus – meistens – zuträglich, aber der Hedonismus allein reicht nicht aus, das mit der erforderlichen Intensität und Glaubwürdigkeit zu begründen. Nehmen wir eine ganz gewöhnliche Beziehungssituation. Sophie verhält sich gelegentlich so, dass es für Arne so aussieht, als sei die zukünftige Lustbilanz eines gemeinsamen Lebens mit ihr negativ. Für Arne wäre es dann konsequent, ihr daraufhin den Laufpass zu geben. Für Sophies persönliche Lustbilanz dagegen ist es entscheidend, dass sie genau damit nicht rechnen muss – jedenfalls nicht jedes Mal, wenn sie ihm mit irgendeiner Zickigkeit auf den Geist geht. Nur unter dieser Voraussetzung ist sie zu gewissen Investitionen in die Beziehung bereit; durch diese und nur dadurch rutscht Arnes prognostizierte Lustbilanz ins Positive. Dasselbe gilt mit vertauschten Rollen, und so werden sie glücklich bis an ihr Lebensende.

Mit einer rein hedonistischen Begründung ("Ich bleibe bei dir, weil es schön mit dir ist – und solange das der Fall ist.") kann das nicht funktionieren. Es funktioniert auch sonst in aller Regel nicht, sagt Kanitscheider und beruft sich dabei auf die empirisch zu beobachtende Natur des Menschen – was ich in diesem Fall für ein schwaches Argument halte.

Es genügt auch nicht, wenn ich gegenüber dem Max argumentiere, dass sich wegen seiner Verhaltensweisen andere Leute von ihm abwenden und ihm deswegen sehr viele lustvolle Erlebnisse entgehen werden. Denn daraus folgt nur, dass er angenehme und unschädliche Tätigkeiten wie das Nasepopeln auf Gelegenheiten beschränken sollte, bei denen niemand zuschaut. Das schafft er nicht, so oft wie er, ohne es zu merken, den Finger in der Nase hat. Besser, er verinnerlicht den Grundsatz, dass so etwas eklig ist.

Eigentlich halte ich mich für einen lustbetonten Menschen. Erst die Lektüre dieses brillant geschriebenen Werks hat mir klargemacht, was für ein Tugendbold ich bin.

  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 5/2012

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