Wild Thing. Der Keiler und der Meiler
Drei Protagonisten, zwei Handlungsstränge: Der baden-württembergische Umweltminister verbringt inmitten des politischen Sommerlochs eine Hand voll heimatlicher Urlaubstage. Aber nicht mit seiner Frau — die weilt zur Zeit im Norden der Republik bei ihrer kranken Mutter —, sondern mit Ines, einer gerade den Kinderschuhen entwachsenen jungen Dame, deren Familie er seit Urzeiten ein guter Bekannter ist. Er zeigt ihr seine berufliche Wirkungsstätte, den jetzt verwaisten Plenarsaal des Landtags; man quatscht über Gott und die Welt, bestellt abends Pizza nach Hause und genießt überhaupt die ungewohnte Form des gemeinsamen Daseins. Der ehemalige Deutschlehrer verspürt in Gegenwart des Mädchens, dessen Vater er sein könnte, endlich wieder einmal „Slipperfeeling“; sie fühlt sich neben dem prominenten Politiker „sündig damenhaft“: eine kleine Frau von Welt. Und zwischendurch eben immer wieder Neues vom starken Keiler: In den schwäbischen Wäldern, schon im Dunstkreis der Außenbezirke der Landeshauptstadt, durchstreift das ausgewachsene Tier sein Revier, ernährt sich von Regenwürmern, Schnecken und den Essensresten der Zivilisation, schreckt Rastplatz-Besucher auf und erwischt sogar einmal in einer einsamen Waldhütte ein gerade werkelndes Liebespaar. Man fragt sich die ganze Lektüre über, wann, wie und wo sich die beiden Handlungsstränge — sprich: die entrückten Freizeitler und das herumstöbernde Wildschwein — endlich treffen. Vielleicht in der Nähe des Atommeilers Fuchsklinge, über dessen Betriebsgenehmigung der Herr Minister demnächst wieder neu befinden muss und vor dessen technischen Mängeln ihn die naturwissenschaftlich versierte Ines immer wieder warnt? Fräulein Einstein, so ihr Spitzname, könnte mit ihren physikalischen Kommentaren unter Umständen mehr erreichen als diverse unabhängige Expertenkommissionen vor ihr. Am Ende tut sie es aber nicht, und das Wildschwein verirrt sich überraschenderweise ins Wohnzimmer des ehemaligen Umweltaktivisten, der jetzt in der politischen Verantwortung steht. Rainer Wochele ist mit „Das Mädchen, der Minister, das Wildschwein“ ein braver Roman von der Hand gegangen, dessen Konstruktionsprinzip wesentlich auf einer abgeschwächten Spielart des Inneren Monologs beruht — was natürlich vor allem im Falle des Keilers eine literarische Herausvorderung darstellt. Vom Stuhl reißt einen das Buch aber nicht.
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