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Massenhafte Abtreibung von Mädchen

Ein junger indischer Medizinstudent tritt Anfang der 1970er Jahre den praktischen Teil seines Studiums an – und das Erste, was ihm an der Tür des Kreißsaals begegnet, ist eine Katze, die mit einem blutbeschmierten menschlichen Fötus im Maul hinausläuft und im Begriff ist, ihn aufzufressen. Auf die vorsichtige Frage nach dem Warum erhält der Jungmediziner die Antwort – kühl und in sachlichem Ton: "Weil es ein Mädchen war."

Das ist die einzige wirklich blutrünstige Geschichte in diesem Buch. Im Übrigen bemüht sich die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Mara Hvistendahl nach Kräften, das ohnehin heftig umstrittene Thema Abtreibung nicht noch zusätzlich emotional aufzuladen. Gleichwohl hat sie uns eine erschütternde Nachricht mitzuteilen: Allein in Asien fehlen 160 Millionen Frauen und Mädchen. Sie sind nie geboren worden, sondern wurden abgetrieben, nachdem mittels Ultraschalluntersuchung ihr Geschlecht bestimmt worden war.

Gemessen an der Gesamtbevölkerung Asiens sind selbst 160 Millionen nur vier Prozent; da aber die selektive Abtreibung weiblicher Föten erst seit knapp 40 Jahren betrieben wird, ist der Effekt in der entsprechenden Altersgruppe dramatisch. In manchen chinesischen Provinzen kommen unter den bis zu Dreijährigen auf 100 Mädchen bis zu 176 Jungen. Mittlerweile erreichen Millionen von Männern das heiratsfähige Alter, finden aber keine Frau – nicht weil gegen sie persönlich etwas einzuwenden wäre, sondern einfach weil nicht genug Frauen da sind.

Das trifft die jungen Männer Indiens und Chinas noch wesentlich härter als ihre westlichen Altersgenossen, weil für sie das Singledasein keine gesellschaftlich akzeptierte Option ist. Ein Mann ist erst ein richtiger Mann, wenn er eine Familie hat – und vor allem einen Sohn.

Das allein erklärt jedoch noch nicht, warum die selektive Geburtenkontrolle so grassiert. Der demografische Übergang kommt hinzu: Im Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung folgt einer sinkenden Sterberate eine fallende Geburtenzahl, so wie die westlichen Länder es vor reichlich 100 Jahren erlebten. Allerdings findet in den aufstrebenden Volkswirtschaften Asiens dieser Übergang wesentlich rascher und dramatischer statt. Die Familien wollen nicht mehr einfach so lange Kinder in die Welt setzen, bis wenigstens ein Sohn darunter ist. In China ist es ihnen seit 1979 sogar verboten, mehr als ein Kind zur Welt zu bringen.

Bei uns gilt die Fixierung auf einen männlichen Stammhalter als antiquiert und längst überwunden. Aber es sind keineswegs die rückständigen Teile der asiatischen Gesellschaften, welche die selektive Geburtenkontrolle am intensivsten betreiben, sondern im Gegenteil die modernen städtischen Eliten: dieselben Schichten, die auch beim demografischen Übergang selbst vorangehen. Zu allem Überfluss findet sich neuerdings ein Überschuss an männlichen Neugeborenen – über das natürliche Verhältnis von 105 Jungen zu 100 Mädchen hinaus – nicht nur in Fernost, sondern auch in manchen Staaten Osteuropas sowie in Albanien.

In Hvistendahls betont sachlicher Darstellung ist auch für die romantischen Gefühle, die man mit Eheschließung und Familiengründung zu verbinden pflegt, wenig Platz. Vielmehr beschreibt sie ausführlich, dass der Frauenmangel, wie jede Knappheit im Wirtschaftsleben, Kompensationsmaßnahmen auslöst. Ein Wirtschaftswissenschaftler würde als Erstes erwarten, dass das knappe Gut im Preis steigt; aber das findet bemerkenswerterweise nicht statt. Allem Anschein nach nehmen die Männer die Tatsache, dass sie für ihre Frau kaum Ersatz finden würden, nicht zum Anlass, sie pfleglicher zu behandeln. Allerdings kaufen zum Beispiel reiche taiwanesische Männer armen vietnamesischen Familien Frauen ab, was zwar manchen Dörfern eine wirtschaftliche Blüte bringt, aber letztlich nur das Problem des Frauenmangels von Reich nach Arm verlagert. In der Not teilen sich gelegentlich auch zwei Brüder eine Frau, für die dann sogar höhere Preise gezahlt werden.

Aus der Sicht der Spieltheorie handelt es sich um einen klassischen Fall der "tragedy of the commons" ("Tragik der Allmende"): Jeder will das Gemeingut für sich nutzen, aber niemand zu seiner Erhaltung beitragen, mit dem Effekt, dass das Gemeingut zu jedermanns Nachteil alsbald erschöpft ist. Diese Interpretation von Frauen als Gemeingut ist zwar überaus chauvinistisch, lehrt uns aber, dass die Kräfte des Marktes aus dem Dilemma nicht herausführen werden.

Bei aller sorgfältig gewahrten emotionalen Distanz lässt die Autorin keinen Zweifel daran, dass die selektive Geburtenkontrolle den Gesellschaften, in denen sie praktiziert wird, schweren Schaden zufügt. Einem wesentlichen Teil der männlichen Bevölkerung wird ein erfülltes Leben versagt bleiben, und die gewaltsamen bis kriminellen Versuche, diesem Schicksal zu entgehen, vermehren insgesamt nur das Leid.

Während Hvistendahl das Problem in klaren Worten beschreibt, tut sie sich mit der Frage nach dessen Ursache wesentlich schwerer. Ist es die jahrtausendealte und tief verwurzelte Überzeugung von der Minderwertigkeit der Frau? Oder die wesentlich jüngere Tatsache, dass Abtreibung als legitimes Mittel der Familienplanung gilt und ohne große Kosten und Risiken verfügbar ist? Oder die Allgegenwart preisgünstiger, mobiler Ultraschallgeräte, die eine Geschlechtsbestimmung ungeachtet staatlicher Verbote ermöglichen? Ursache 1 wird von der Autorin nicht ernsthaft angefochten – vielleicht aus Respekt vor jahrtausendealten kulturellen Traditionen im Allgemeinen. Oder sie hält diese Einstellung für unwandelbar – wenig plausibel angesichts des geradezu dramatischen kulturellen Wandels, den diese Gesellschaften durchmachen. Ursachen 2 und 3 dagegen, ohne die Ursache 1 ihre katastrophalen Wirkungen kaum entfaltet hätte, sind zweifellos Importe aus den westlichen Industrienationen.

Hvistendahl beschreibt ausführlich, wie in den 1960er Jahren Heerscharen vor allem amerikanischer Berater die indische Regierung dazu drängten, dem Wachstum ihrer Bevölkerung durch massenhafte Abtreibungen Einhalt zu gebieten, da alle anderen Mittel der Geburtenkontrolle nicht hinreichend wirksam oder praktikabel erschienen. Und die Regierung gab diesem Drängen nach, auch weil finanzieller Druck von Seiten der Berater ihrer Überzeugung aufhalf. Allerdings fördert auch die chinesische Regierung, einer Abhängigkeit von westlichem Einfluss gänzlich unverdächtig, seit reichlich 30 Jahren die Abtreibung zum Eindämmen des Bevölkerungswachstums und nimmt damit de facto das Verschwinden der Mädchen in Kauf.

Während Hvistendahl kein Problem damit hat, den Kulturimperialismus ihrer Landsleute zu geißeln, ist ihre Position im Übrigen durchaus zwiespältig – ein getreues Bild der Tatsache, dass die Auseinandersetzung in den USA quer zu den etablierten Frontlinien verläuft. Die Autorin lokalisiert Paul Ehrlich, den Autor des einflussreichen Bestsellers "Die Bevölkerungsbombe", und vor allem seine zahlreichen Leser bei den Rassisten, die nicht in erster Linie zu viele Menschen auf der Erde fürchten, sondern zu viele gelbe und schwarze Menschen. Das sind nun ausgerechnet die Konservativen, für die Abtreibung des Teufels ist. Wenn diese ihr Ziel propagieren, dürfen sie also nicht so laut über das Mittel reden.

Die Liberalen auf der anderen Seite wollen auf das Mittel nichts kommen lassen; auch Hvistendahl besteht auf dem mühsam erkämpften Recht der Frau, über ihren eigenen Körper zu verfügen. Da ist es für die Argumentation nicht hilfreich, dass die massenhafte Anwendung dieses Mittels so katastrophale Folgen hat. Also meiden beide Seiten das Thema, mit dem Effekt, dass das Verschwinden der Frauen längst nicht die öffentliche Aufmerksamkeit erhält, die es verdient hätte.

Neuerdings können Paare in den USA durch Spermienselektion und ähnliche Techniken das Geschlecht ihres Nachwuchses frei von jeder Abtreibungsproblematik wählen – und siehe da, 80 Prozent von ihnen entscheiden sich für ein Mädchen. Wehe, wenn das Kind dann den Traum seiner Eltern vom Prinzesschen mit Haarspangen und rosa Kleidchen nicht erfüllt.

Der Blick auf dieses Luxusproblem hilft der Autorin schließlich, ihre eigene ideologische Position zu klären: "Eine Frau sollte das Recht haben, eine Schwangerschaft zu beenden, aber sie sollte nicht das Recht haben, der in der Schwangerschaft verkörperten Person eine Form nach ihrer Laune zu geben." Nun ja. Was die Elternpaare Indiens und Chinas zum selektiven Schwangerschaftsabbruch veranlasst, ist kaum als "Laune" zu charakterisieren.

In Zeiträumen von einigen Jahrzehnten lernen auch traditionsbewusste Gesellschaften aus ihren Fehlern. So ist neuerdings in Südkorea das Geschlechtsverhältnis bei den Geburten auf den Normalwert zurückgekehrt, allerdings auf kläglich niedrigem Niveau; und die Regierung sieht sich veranlasst, in großen Kampagnen für das Gebären von Kindern und insbesondere Töchtern zu werben. Da die asiatischen Gesellschaften den demografischen Übergang viel schneller vollziehen als die europäischen, droht ihnen bereits jetzt und in viel stärkerem Ausmaß das Problem der Überalterung.

  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 3/2013

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