Die Letzten werden die Ersten sein
Zwei Gegner stehen einander in einem Kampf auf Leben und Tod gegenüber. Der eine, Goliath, ist professioneller Krieger, mehr als zwei Meter groß und mit Schwert, Speer, Helm, Schuppenpanzer und Beinschienen ausgerüstet. Der andere, David, ist Hirtenjunge und hat bloß eine Schleuder und ein paar Kieselsteine. Es scheint klar zu sein, dass David auf ganzer Linie unterliegen wird. Doch dann trifft er mit einem Stein Goliaths Stirn, der daraufhin betäubt zu Boden stürzt.
Nach Meinung des britisch-kanadischen Wissenschaftsjournalisten Malcolm Gladwell ist der Ausgang dieses biblischen Duells alles andere als erstaunlich. Goliaths Stärke sei der Nahkampf gewesen, doch auf den habe David sich wohlweislich nicht eingelassen. Mit seiner Steinschleuder habe der Junge über eine Waffe verfügt, die zwar nicht viel hermachte, in den Händen eines geübten Schützen aber tödlich sein konnte. Und schließlich deute vieles darauf hin, dass Goliath sehbehindert gewesen sei, was ihn im Kampf beeinträchtigte. Möglicherweise habe er unter Akromegalie gelitten – einem krankhaften körperlichen Wachstum, das durch Überproduktion des Wachstumshormons Somatropin hervorgerufen wird und häufig eine Schädigung des Sehnervs nach sich zieht.
Anhand dieser Geschichte zeigt Gladwell, dass die Starken oft längst nicht so stark sind, wie sie wirken. Hingegen könnten die Benachteiligten manchmal ungeahnte Kräfte entwickeln und dadurch am Ende triumphieren. Das manifestiert sich auch im Werdegang des Legasthenikers David Boies, der höchstens ein Buch pro Jahr liest, weil Lesen für ihn extrem mühsam und anstrengend ist. Er spricht etliche Wörter falsch aus und muss Wörter, die er noch nicht kennt, zunächst einmal für sich buchstabieren. Dennoch hat er Jura studiert, sein Studium abgeschlossen und ist zu einem der renommiertesten Strafverteidiger der USA aufgestiegen.
In Wahrheit – schreibt Gladwell – hat Boies nicht trotz, sondern wegen seines Handicaps Karriere gemacht. Er habe von Anfang an nach Wegen suchen müssen, die es ihm ermöglichten, mit extrem wenig Lektüre auszukommen. Dadurch habe er gelernt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, äußerst aufmerksamen zuzuhören und Gespräche in sämtlichen Einzelheiten im Gedächtnis zu behalten. So sei er ein Virtuose darin geworden, Zeugen zu befragen und auf Richter und Geschworene rhetorisch einzuwirken.
Warum ist die gängige Auffassung falsch, dass Kinder umso besser lernen, je kleiner die Schulklassen sind, in denen der Unterricht stattfindet? Warum ist es oft keine gute Idee, an einer Elite-Universität zu studieren statt an einer guten zweitklassigen Hochschule? Warum kam es während des II. Weltkriegs in London kein einziges Mal zu einer Massenpanik, obwohl diese Stadt acht Monate lang von der deutschen Luftwaffe bombardiert wurde? Und wie konnten die Einwohner des winzigen Bergdorfs Le Chambon-sur-Lignon zur Zeit des Vichy-Regimes hunderte jüdischer Flüchtlinge verstecken oder auf Schleichwegen in die Schweiz bringen? All diese Fragen beantwortet Gladwell unter Verweis auf die ungeahnte Stärke der vermeintlich Schwachen.
Wer Herausforderungen wie Behinderungen, Schicksalsschläge oder Repressionen bestehen muss, verkündet Gladwell, kann unter ganz bestimmten Umständen enorme Fähigkeiten entfalten und dadurch die Oberhand gewinnen, dass er mit innovativen Strategien experimentiert. Leider geht Gladwell nicht näher auf diese Umstände ein. Es bleibt deshalb rätselhaft, warum es einige wenige Legastheniker weit bringen, die meisten hingegen nicht. Gladwell hat außerdem die Neigung, nur Forschungsergebnisse zu präsentieren, die seine Ideen bestätigen. Trotzdem: Ein sehr anregendes und erhellendes Buch.
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