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Entwicklungsmotor Mitmensch

Um die Evolution unseres Denkens zu erklären, schlagen der Kinderheilkundler Stanley Greenspan und der Philosoph Stuart Shanker einen weiten Bogen von der stammesgeschichtlichen "Entstehung" menschlichen Verhaltens bis zu den komplexen Anforderungen der modernen Gesellschaft. Da sich die Autoren klar zu den evolutionären Grundlagen bekennen, gleichzeitig aber dem Lernen eine sehr hohe Bedeutung beimessen, dürften sie es schaffen, in beiden Lagern der unseligen "Anlage-Umwelt- Debatte" für Aufruhr zu sorgen.

Zunächst verfolgen die beiden Wissenschaftler, wie sich ein Kind kognitiv und emotional entwickelt. Diese Entwicklung sei keineswegs spezifisch menschlich: Bereits Menschenaffen zeigten Grundvoraussetzungen selbst für die Sprache (siehe auch Gehirn&Geist 9/2005, S. 29). Die Autoren argumentieren, jedes Kind wiederhole quasi die von unseren Vorfahren über Jahrtausende durchlaufene kognitiv- emotionale Entwicklung. Angeboren seien nur die genetischen Grundlagen, die den Menschen zu jenen Erfahrungen befähigen, die das Lernen überhaupt erst ermöglichen.

Damit ein Kind tatsächlich das Sprechen und den komplexen Symbolgebrauch erlernt, ist es auf zwischenmenschliche Interaktion angewiesen. Nur mittels Beobachtungen kann es die für typisch menschliche Leistungen notwendigen neuronalen Strukturen entwickeln. Dass Greenspan und Shanker damit dem Erfahrungslernen eine derart entscheidende Rolle beimessen, dürfte bei Evolutionspsychologen Widerspruch hervorrufen.

Unbekanntes Land der Gefühle

Darüber hinaus betonen die Autoren die noch weit gehend unerforschte Rolle der Emotionen im Lernprozess. In der 2Entwicklung hin zu immer größeren Fähigkeiten der ko-regulierten emotionalen Kommunikation" sehen sie gar den Motor der Evolution. Nur durch die Fähigkeit, affektive Nuancen empathisch wahrzunehmen und zu deuten, gelänge es den Menschen, angemessen zu reagieren und selbst subtile Botschaften zu übermitteln. Dabei spielen neben der Sprache natürlich auch Gestik und Mimik eine zentrale Rolle.

Als wenn dies nicht schon genug Stoff böte, führen die Autoren ihren Gedankengang noch weiter bis hin zur aktuellen Problematik von Konflikten zwischen verschiedenen Kulturen und Gesellschaften. Ausgehend von der Annahme, dass die moderne Welt mit ihren Chancen durch weltweite Vernetzung, aber auch den Risiken durch den globalen Terrorismus wesentlich komplexer sei als in den Jahrhunderten zuvor, fordern Greenspan und Shanker, die Gesellschaft müsse sich verändern. Eine Welt gegenseitiger Abhängigkeiten benötige vor allem empathiefähige Individuen, die nicht in einfachen hierarchischen Strukturen lebten, sondern Anforderungen auf verschiedenen Ebenen gerecht würden.

Das ist im Buch arg abstrakt formuliert, leider werden die Autoren an dieser Stelle nicht konkreter. Auf diesen Teil hätten sie gut verzichten können, denn sie beschränken sich auf allgemein gehaltene Forderungen, ohne in die Tiefe zu gehen.

Die außerordentliche Komplexität und der weite Bogen des Buchs sind jedoch eine spannende Herausforderung für den Leser – und keineswegs leicht zu bewältigen. Wem etwa die evolutionären Grundannahmen der Entwicklung menschlichen Verhaltens weniger vertraut sind, dem wird es vermutlich schwer fallen, den neuen Ansatz des Duos einzuordnen und zu beurteilen. Da das Buch bei allem wissenschaftlichen Anspruch gut verständlich geschrieben ist, lohnt sich durchaus auch das Lesen der komplizierten Kapitel. Fazit: empfehlenswert!
  • Quellen
Gehirn&Geist 7–8/2007

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