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Vater der Geschichte

Geschichte vollzieht sich in den Kategorien von Raum und Zeit. Diese für uns heute selbstverständliche Einsicht hat im 5. Jahrhundert v. Chr. der griechische Historiker Herodot als erster zum Prinzip erhoben. Seine "Historien" dokumentieren das Wirken von Menschen in einer datierbaren Zeit und in einem geografisch fixierten Raum. Dank dieses Geschichtswerks über die große Auseinandersetzung zwischen Griechen und Persern, zwischen Orient und Okzident, gilt Herodot als "Vater der Geschichte", als erster Historiker des Abendlands. Hakan Baykal, freier Autor und Journalist, zeichnet in unterhaltsamen Miniaturen das Leben und Wirken dieses "ersten Reporters der Weltgeschichte" nach.

Geboren wird Herodot im kleinasiatischen Halikarnassos, heute Bodrum. Er wächst an der Schwelle zwischen Orient und Okzident auf und fängt um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. damit an, die Welt zu erkunden. Als Kaufmann bereist er die Schwarzmeerküste, macht sich von dort aus auf den Weg in die nördlich angrenzenden Steppengebiete Eurasiens, den Lebensraum der Skythen, und besichtigt das Zweistromland. In Ägypten zieht er 800 Kilometer nilaufwärts bis zur Flussinsel Elephantine – er sucht nach Hinweisen, um die Kontinentaltheorie des Geografen Hekataios von Milet (5./6. Jahrhundert v. Chr.) zu widerlegen, der den Nil als Grenze zwischen Libyen beziehungsweise Afrika und Asien bestimmt hatte.

Nie erlahmende Abenteuerlust, kontaktfreudige Aufgeschlossenheit, unerschöpfliche Wissbegierde und intensiver Forscherdrang kennzeichnen diesen "Wanderer zwischen den Welten", der bis in die entlegensten Gebiete reist, um persönlich in Augenschein zu nehmen, worüber er berichtet. Herodots Interesse gilt der Geografie sowie fremden Menschen und ihren Sitten. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen fließen als ethnografische und naturkundliche Exkurse ("logoi") in sein Werk ein und geben diesem ein unvergleichliches Kolorit.

In Athen trägt Herodot seine Reiseberichte einem begeisterten Publikum vor. Der Staatsmann Perikles (490-429 v. Chr.) und der Tragödiendichter Sophokles (zirka 497-406 v. Chr.) werden zu guten Bekannten. Diese Nähe zur attischen Demokratie, die sich gegen die Angriffe der Perser behauptet hat, inspiriert den Weitgereisten zu seiner großen Abhandlung über den Konflikt zwischen Griechen und "Barbaren".

Herodot schreibt sein Werk in einer Zeit des Umbruchs. Er steht am Übergang von einer mythisch bestimmten zu einer rational geprägten Sicht auf die Welt. Das Besondere an seiner Darstellung ist nicht allein die Tatsache, dass Menschen hier erstmals neben Göttern die Geschichte beeinflussen. Sondern auch, dass Herodot, Sohn eines nichtgriechischen Vaters, die "Barbaren" in seine Betrachtungen einbezieht. Diese neue Perspektive, welche die Leistungen nicht nur eines Volkes in den Blick nimmt, macht Herodot – mit den Worten des Berliner Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848-1931) – zum Erfinder der "universalen Geschichtsschreibung".

Bemerkenswert ist, dass der Grieche aus Kleinasien die Perser wohltuend sachlich, objektiv und ohne jeden Chauvinismus schildert. Eine weltoffene Toleranz scheint hier durch, derentwegen er von seinen Landsleuten als "Philobarbaros" (Barbarenfreund) gescholten wurde. Doch das war beileibe nicht die einzige Kritik. Viele von Herodots Zeitgenossen und Nachgeborenen zweifelten an der Glaubwürdigkeit seiner Darstellungen, verspotteten ihn als Märchenonkel und Geschichtenerzähler, der sich bei seinen Recherchen nur aufs Hörensagen verlasse und Informationen unreflektiert wiedergebe. Diese Missbilligung entzündete sich an mitunter fantastischen Erzählungen über kiffende Nomaden, fliegende Schamanen, hundsgroße Riesenameisen und geflügelte Schlangen, die der Weitgereiste von sich gab.

War Herodot also nicht der Vater der Geschichte, sondern der Lügen? Ein Münchhausen der Antike? Mitnichten, schreibt Baykal. Dagegen spräche, dass zahlreiche Berichte des griechischen Geschichtsschreibers eine Detailtiefe erreicht hätten, die in der Antike ihresgleichen suche: etwa über die Mumifizierungspraktiken der Ägypter, den Verlauf der persischen Königsstraße oder die Einteilung des persischen Reiches in Satrapien. Zudem hätten archäologische Funde wiederholt den wahren Kern in Herodots Geschichten offengelegt. Kupferne Gefäße beispielsweise, die Rückstände von verbranntem Hanf enthalten, bestätigen seine Schilderungen über berauschende Schwitzbäder, die Reiternomaden in Zelten abgehalten haben sollen. Nur handelte es sich dabei nicht um Dampfbäder, wie Herodot mangels besseren Wissens und aus griechischer Sicht annahm, sondern um eine zeremonielle Handlung, bei der Schlafmohn verbrannt wurde, was die Teilnehmer in einen ekstatischen Zustand versetzte.

Stück für Stück stellt die moderne Forschung die Glaubwürdigkeit Herodots als Historiker wieder her – knapp 2500 Jahre, nachdem dieser seine Berichte niederlegte. Baykals lesenswertes Buch trägt seinen Teil dazu bei.

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