Die Angst beim Elfmeterschießen
Als Fußballfan ist man befangen. Wenn das eigene Team verloren hat, dann lag das natürlich an der falschen Platzwahl, einer unpassenden Trikotfarbe oder weil man auf dem Weg zum Stadion die Bratwurst nicht am üblichen Imbissstand gekauft hat. Kurz: Viele Anhänger des runden Leders sind abergläubisch. Sie "beten" insgeheim, dass ihrem Lieblingsstürmer der perfekte Lauf gelingen möge. Sie glauben an den Heimvorteil, und sie zweifeln nicht daran, dass der Lärm der Fankurve den Schiedsrichter beeinflussen und das Team zum Sieg treiben kann.
Der Kölner Sport- und Kognitionswissenschaftler Daniel Memmert, der Münsteraner Sportpsychologe Bernd Strauß und der Journalist Daniel Theweleit treten in ihrem gelungenen Buch "Der Fußball. Die Wahrheit" an, diese Mythen zu entzaubern oder auch mit handfestem Zahlenmaterial zu bestätigen. Dabei verlassen sie sich nicht auf Geschichten aus der Sportpresse, sondern stützen sich vor allem auf Fachliteratur. In elf Kapiteln gehen sie verbreiteten "Wahrheiten" des Fußballs nach, betreffend etwa den Heimvorteil, die Bedeutung von Sieges- oder Trefferserien, die Psychologie des Elfmeterschießens, die Rolle der Trikotfarbe oder die Frage, was es bringt, einen erfolglosen Trainer zu entlassen. Bebildert sind die Texte mit klassischen Fußballfotos, darunter Szenen aus den Fankurven oder Bastian Schweinsteigers legendärer Elfmeter-Fehlschuss gegen Chelsea London im Championsleague-Finale 2012. Es finden sich aber auch zahlreiche Tabellen und Grafiken, die das Geschriebene kurz und knackig mit statistischem Material untermauern.
Seine größten Stärken zeigt das Buch, wenn die Autoren bekannte Anekdoten über einzelne Fußballstars oder Vereine herausgreifen, um sie objektiv zu analysieren. Beispielsweise wird Lothar Matthäus bis heute Feigheit vorgeworfen, weil er im WM-Endspiel von 1990 gegen Argentinien kurz vor dem Schluss anscheinend nicht den Mut hatte, den entscheidenden Elfmeter zu schießen. Stattdessen ließ er Andy Brehme den Vortritt, der siegbringend zum 1:0 einnetzte. Feigheit war hier wohl nicht im Spiel, wie das Buch deutlich macht. Wahrscheinlicher ist eine andere Interpretation, die Karl-Heinz Rummenigge schon damals vorbrachte und die Memmert & Co. nun in einen größeren Kontext stellen.
Matthäus, so lesen wir, habe bereits während seiner Mailänder Zeit die wichtigen Elfmeter an Brehme abgetreten. Dieser sei ein handlungsorienter Mensch gewesen, für den schlicht der Ball ins Tor musste. Matthäus hingegen schätzen die Autoren eher als reflektierenden Menschen ein (auch wenn diese Sichtweise manchen überraschen mag), der sich beim WM-Elfmeter der "überwältigenden Bedeutung des Augenblicks" bewusst war. Die Wahrscheinlichkeit, zu verschießen, war bei ihm relativ groß, weil er zu viel nachdachte. Sich dessen bewusst seiend trat er hinter Brehme zurück. Die vermeintliche Schwäche verkehrt sich also im Rückblick zur Stärke.
Psychologie spielt beim Elfmeterschießen überhaupt eine sehr große Rolle, wie das Buch an etlichen Beispielen klarmacht – und so mancher Mythos hier lässt sich tatsächlich durch Fakten untermauern. So scheitern die Engländer wirklich auffällig oft beim entscheidenden Duell vom Punkt aus, während deutsche Mannschaften fast immer siegreich daraus hervorgehen. Und das gilt übergreifend für mehrere Fußballergenerationen. Wenn ein Team frühere Elfmeterschießen immer wieder vermasselt hat, trägt es auch beim nächsten Mal ein signifikant höheres Risiko, zu scheitern.
Die Fans müssen sich ebenfalls der nackten Wahrheit stellen, etwa hinsichtlich des Heimvorteils. Die großen Erwartungen, die sie bei Heimspielen haben, tragen oft zur Niederlage ihres Teams bei – weil die Mannschaft unter dieser Last zerbricht. Das war etwa der Fall beim "Finale dahoam" 2012 von Bayern München oder 1950 beim WM-Heimfinale Brasilien gegen Uruguay. Andererseits sorgt die Stimmgewalt der Fans dafür, dass Schiedsrichter gelbe und rote Karten eher gegen den Gegner zücken, und dass sie länger nachspielen lassen, wenn das Heimteam zurückliegt. Allerdings schrumpft die Bedeutung des Heimvorteils im Lauf der Zeit.
Insgesamt ist Memmert, Strauß und Theweleit ein packendes Buch über den Fußball und die Wissenschaft dahinter gelungen. Zwei Schwachpunkte sind zu nennen. Erstens fehlt ein Register für die Suche nach dem Lieblingsverein oder -spieler. Zweitens erhöhen die eingestreuten Interviews den Informationswert nur sehr bedingt. Statt ihrer hätten die Autoren lieber noch die eine oder andere Anekdote analysieren können. Dennoch: Für Fans und Hobbyspieler, aber auch für Trainer und Vereinspräsidenten gehört das unterhaltsame Werk definitiv zur Pflichtlektüre.
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