Knochenleser
Knochen haben es in sich. Kann man doch aus ihnen – dank moderner Analysetechniken – auf Alter und Geschlecht der Verstorbenen rückschließen, auf ihre Herkunft, ihre Krankheiten, ihre Lebensweise einschließlich Speiseplan sowie den Grund ihres Todes. Bisweilen geben Gebeine sogar die Identität ihres früheren "Ichs" preis, wie unlängst die spektakuläre Entdeckung der sterblichen Überreste des englischen Königs Richard III. (1452-1485) zeigte. DNA-Analysen hatten belegt, dass es sich tatsächlich um die Gebeine dieses Herrschers aus dem Hause Plantagenet handelt, über den William Shakespeare (1564-1616) sein berühmtes Drama schrieb.
Das vorliegende Buch des britischen Archäologen Paul Bahn, im englischen Original 2003 unter dem Titel "Written in bones" erschienen, hält für den Leser nicht minder Aufsehen erregende Entdeckungen parat. 19 renommierte Autoren stellen darin spektakuläre Skelettfunde vor, die aus sehr verschiedenen Zeiten stammen – von der Vorgeschichte über das Neolithikum bis weit in die Neuzeit hinein.
Da ist die Rede von einem eisenzeitlichen Grab aus Mittelfrankreich, in dem acht Menschen zusammen mit ebenso vielen Pferden aufwändig bestattet wurden. Oder von einer chinesischen Adligen, die in einer seltsamen roten Flüssigkeit mehr als 2000 Jahre lang so gut überdauerte, dass sogar noch Blut in ihren Adern gefunden wurde. Wir lesen von Kindern, die vor rund 500 Jahren von Inka-Priestern geopfert wurden und auf eisigen Andengipfeln die Jahrhunderte mitsamt Haut, Haaren und Kleidung fast unbeschadet überstanden. Ein sibirisches Grab aus der Mittelsteinzeit wiederum erwies sich als gemeinsame Ruhestätte eines Geköpften und eines Polarwolfs, und das korpulente Profil eines übergewichtigen Mönchs im englischen Hull verewigte sich als roter Fleck auf den Holzplanken seines Eichensargs.
Der Band erzählt zudem von einer recht makabren "Ernte", die litauische Archäologen im Dezember 2001 machten, als sie nahe der Hauptstadt Vilnius auf einen unterirdischen Wald von Gebeinen stießen, die in mehreren Schichten übereinander gestapelt waren. Anhand noch erhaltener Kleidungsreste wurden die mehr als 3000 Skelette als Soldaten der napoleonischen Armee identifiziert, die – von Hunger, Kälte und Erschöpfung entkräftet – im Herbst 1812 beim Rückzug aus Russland in einem Massengrab beigesetzt wurden.
Anhand dieser und vieler weiterer Funde gewährt das Buch einen faszinierenden Einblick in die Welt der forensischen Anthropologie – jenes Teilgebiets der Anthropologie, dessen Hauptaufgabe es ist, Menschen anhand biologischer Merkmale (vor allem des Knochenmaterials) zu identifizieren. Ob im ewigen Eis tiefgekühlt, unter Wüstensand luftdicht abgeschlossen oder im Moorboden mumifiziert: menschliche Überreste, vor organischem Zerfall bewahrt, waren seit jeher eine wichtige Informationsquelle beim Rekonstruieren unserer Vergangenheit. Weisen gebrochene Kiefer, Schädelverletzungen und Knochenfrakturen meist auf Fremdeinwirkung hin, geben chemische Substanzen in den Knochen Hinweise auf die Krankheiten, die Ernährung und die Lebensweise der Verstorbenen.
So offenbaren die Gebeine des adipösen Kirchenmannes aus Hull, dass dieser ein übermäßiges Knochenwachstum aufwies – die Folge üppiger Verköstigung. Auf der anderen Seite zeigen die Skelette verstorbener Kinder aus Südafrika Anzeichen von eklatanten Mangelerscheinungen, die sich auf einseitige und unzureichende Ernährung zurückführen lassen. Besonders markante Spuren hat die Lustseuche Syphilis im Gebein hinterlassen, da sie im fortgeschrittenen Stadium die Knochen angreift.
Sichtbar werden auch mechanische Belastungen, denen der Verstorbene zu Lebzeiten ausgesetzt war. Sie äußern sich etwa in den Spuren von degenerativen Gelenkerkrankungen (Osteoarthritis) oder in Deformationen der Gliedmaßen. Welche Auswirkungen das lebenslange Ausüben einer bestimmten Tätigkeit auf die Knochen haben kann, zeigt das Beispiel einer Frau, die um 2700 v. Chr. im mesopotamischen Ur starb. Sie besaß eine ausgeprägte Arm- und Brustmuskulatur, wie sich an ihrem Skelett ablesen lässt – vermutlich, weil sie jahrelang mit einem schweren Stößel arbeitete, der ihr als Grabbeigabe mit ins Jenseits gegeben wurde.
Die Arbeitsmethoden der "Knochenleser" sind in dem Buch sehr anschaulich beschrieben. Was sie alles zu rekonstruieren erlauben, ist mitunter verblüffend. Mithilfe von Kohlenstoff-14-Analysen kann man Knochen beispielsweise bis auf 40000 Jahre zurückdatieren, und die Analyse von Sauerstoff- und Strontiumisotopen in den Zähnen gibt Aufschluss über den einstigen Speiseplan der Toten – und sogar darüber, wie und wo sie aufgewachsen sind.
Wer sich aus erster Hand darüber informieren will, wie Anthropologen mit detektivischem Spürsinn die Botschaft der Knochen entziffern, dem sei das reich illustrierte und anschaulich geschriebene Buch wärmstens empfohlen.
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