Behaarte Fremde
"Was ist der Mensch?" Wer nach neuen Antworten auf diese alte Frage sucht, der sollte nach Ansicht des Biologen und Philosophen Hans Werner Ingensiep einen interdisziplinären Lösungsansatz wählen. Und da seit Darwin die Frage nach dem Menschen nicht mehr von der nach dem Menschenaffen zu trennen ist, spricht alles für eine enge Zusammenarbeit von Primatenforschern und (philosophischen) Anthropologen.
Ingensiep lehrt an der Universität Duisburg-Essen Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Sein Buch wirft einen Blick darauf, wie der Mensch sich und seine nahen Verwandten im Tierreich gesehen hat – sowohl bevor als auch nachdem Charles Darwin (1809-1882) und Alfred Russel Wallace (1823-1913) die Evolutionstheorie veröffentlichten. Speziell geht es um die Perspektive von Europäern auf Menschenaffen und wie sie sich im Lauf der Jahrhunderte veränderte. In zehn Kapiteln spannt Ingensiep einen faszinierenden Bogen von der Antike über die Renaissance bis hin zur Aufklärung und Moderne. Sein Werk versammelt denn auch Geistesgrößen wie Aristoteles (384-322 v. Chr.), René Descartes (1596-1650), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), Carl von Linné (1707-1778), Immanuel Kant (1724-1804) sowie Max Scheler (1874-1928), Helmuth Plessner (1892-1985), Arnold Karl Franz Gehlen (1904-1976) und andere mehr. Sie alle liefern Puzzleteile, die Ingensiep schließlich zu einem beeindruckenden Gesamtbild zusammenfügt. Darin beschreibt er jene Jahrtausende lange "Integrationsgeschichte", an deren Ende neben dem Homo sapiens der "kultivierte Affe" erscheint.
Der Blick auf unsere nächsten Verwandten – Gorilla und Schimpanse – fiel in verschiedenen Epochen unterschiedlich aus. Mal sah man sie als lächerliche Karikaturen unserer selbst, mal als bestialische Monster und dann wieder als edle Wilde, die schließlich zu unseren Brüdern werden. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts weiteten Wissenschaftler auch die letzten vermeintlichen Alleinstellungsmerkmale des "weisen Menschen", etwa Selbstbewusstsein, Moral und Todesvorstellungen, auf Menschenaffen aus – zumindest bis zu einem gewissen Grad. Daher sind unsere haarigen Vettern mittlerweile zu Personen avanciert, denen so mancher Zeitgenosse die Menschenrechte nicht länger vorenthalten möchte.
Seit einigen Jahren zeichnet sich allerdings immer klarer ab, dass wir im Vergleich zu den großen Menschenaffen weit stärker von überindividuellen sozialen Normen und wechselseitigen sozialem Engagement geprägt sind. Fachleute bezeichnen das als "Interpersonalität" und "Intersubjektivität". Die Kultur des Menschen weist einzigartige Strukturen der sozialen Kommunikation auf, gesteuert durch eine psychologische "Infrastruktur geteilter Intentionalität". Und so betont Ingensiep einerseits, wie sehr sich unser Verhältnis zu den Tieren geändert hat. Andererseits macht er deutlich, dass die Erforschung von Schimpanse, Gorilla & Co. auch unser Selbstbild grundlegend prägt.
Ist man also einer verbindlichen Antwort auf die Frage, was der Mensch sei, näher gekommen? Ingensieps Antwort fällt wohltuend differenziert aus. Je mehr sich unser Wissen über Mensch und Menschenaffe erweitere, desto mehr Fragen ergäben sich – sowohl hinsichtlich ihrer Identität als auch bezüglich ihrer unübersehbaren Differenzen. Ingensiep beklagt denn auch die "naive Art naturgemäß menschlicher Fragen zu Menschenaffen". Denn angesichts evolutionärer und genetischer Nähe zielten diese Fragen meist auf eine "Identifizierung und Identität" mit den Tieren, weniger jedoch auf "klare begriffliche Differenzierungen und Differenz".
Doch genau um letzteres, die Differenz, geht es Ingensiep: Sein Buch liefert das Rüstzeug für eine nuancierte Antwort auf die alte, in immer neuen Varianten gestellte Frage nach dem Menschen(affen). Nur zu oft, so Ingensiep, vergessen wir, wie sehr unser Herangehen das Ergebnis vorherbestimmt. Es mache nun einmal einen bedeutsamen Unterschied, ob wir fragen "Wer ist so wie wir?" oder ob wir wissen wollen "Wer ist anders als wir?".
Ingensiep vermittelt einen gelungenen Einblick in die wechselnden Sichtweisen auf den Homo sapiens und seine tierischen Verwandten. Er weist nach, dass wir uns davor hüten sollten, den Menschen als hermetisch abgeschlossene, von den Menschenaffen separierte Spezies zu definieren. Ingensieps Rat lautet, stets "kritisch zu bedenken, dass der kultivierte Mensch sich selbst gern im Spiegel eines kultivierten Affen erkennen, sich vergleichen, aber dennoch vom Affen unterscheiden möchte".
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