»Der Letzte seiner Art«: Freundschaft über Artgrenzen hinweg
Er war der ursprüngliche Träger des englischen Namens »penguin«: der Riesenalk (Pinguinus impennis, Alca impennis) – ein schwarz-weißer Seevogel, der gut schwimmen, dafür aber nicht fliegen konnte und auf der Nordhalbkugel in großen Kolonien lebte. Als Seefahrer später den südlichen Teil der Erde bereisten und dort auf die heute bekannten Pinguine stießen, hielten sie diese wegen ihres ähnlichen Aussehens für Riesenalke und nannten sie deshalb ebenfalls »penguins«.
Näher verwandt waren die Arten zwar nicht miteinander, wie Pinguine waren Riesenalke an Land aber ebenfalls schwerfällig. Dies wurde ihnen zum Verhängnis: Seefahrer und Bewohner der Färöer und anderer Orte, an denen Riesenalkpaare pro Jahr nur ein einziges Ei legten, töteten die Vögel massenhaft wegen ihres Fleisches und Fettes sowie ihrer Federn. 1830 wurde durch einen Vulkanausbruch zudem der letzte geschützte Zufluchtsort der Art – die Insel Geirfuglasker bei Island – zerstört. Als der Riesenalk im 19. Jahrhundert selten geworden war, zahlten manche Museen und Vogelsammler viel Geld, um ein Exemplar für ihre Sammlung zu ergattern. Das letzte Mal gesichtet wurde der Riesenalk im Jahr 1852. Das letzte Brutpaar wurde wahrscheinlich schon acht Jahre früher erlegt.
Soweit die Historie. Was aber wäre, wenn einer der Vögel das Abschlachten überlebt hätte? Diese Idee hat die französische Schriftstellerin und Verlegerin Sibylle Grimbert in diesem preisgekrönten Roman umgesetzt. Dessen Hauptfigur ist Auguste, genannt Gus, der für das Naturhistorische Museum von Lille im Jahr 1835 die isländische Fauna erforschen soll und dabei einen der Riesenalke rettet. Erst plant Gus, den Vogel dem Museum zu überlassen. Doch schon bald fühlt er sich verantwortlich für ihn, behält ihn und tauft ihn auf den Namen »Prosperous« (kurz »Prosp«), weil der dicke Bauch des Vogels ihn an Wohlstand erinnert.
Zwischen Fremdheit und Nähe
Geschickt verbindet Grimbert die fiktive Handlung um Gus und Prosp mit der realen Geschichte des Riesenalks. Galt die Art zu Beginn des Romans bereits als selten, wird Gus nach und nach klar, dass der Riesenalk tatsächlich aussterben und es für Prosp keine Rückkehr zu seinen Artgenossen geben wird. Tragisch für den Forscher, dessen Beziehung zu dem Vogel im Laufe von Jahren, welche die beiden miteinander verbringen, enger wird. An einer Stelle des Romans stellt Gus sich sogar vor, er selbst wäre ein Riesenalk. Dass Prosp dabei gelegentlich in der Erzählung vermenschlicht wird – so flüchtet er zum Beispiel nach einem Sturz »beleidigt« unter einen Tisch –, mag an ebendieser engen Bindung des Wissenschaftlers zu ihm liegen, die teilweise an Besessenheit grenzt.
Neben der Frage, wie nah beziehungsweise fremd sich Mensch und Tier sind, befasst sich Grimbert auch mit der Verantwortung, die Menschen für andere Arten tragen (können) – in Zeiten des Biodiversitätsverlusts auch heute noch ein wichtiges Thema. Kritische Töne in Bezug auf das Ausrotten von Arten kommen dabei nicht zu kurz. So werden etwa die Matrosen, welche die Riesenalke am Anfang des Romans erschlagen, »Mörder« genannt. Gewöhnungsbedürftig muten aus heutiger Sicht manche Vorstellungen an, die zu Gus‘ Zeiten über das Aussterben von Tierarten im Umlauf waren. Damals hatte Darwin noch nicht sein bahnbrechendes Werk »Über die Entstehung der Arten« (1859) veröffentlicht. Man nahm teilweise an, dass Arten gar nicht verschwinden können, weil die Natur einer »harmonischen Ordnung« folge. Bejagte Tiere wie der Riesenalk seien an andere Orte abgewandert und hielten sich dort versteckt. Dass die Jagd auf die Riesenalke vor dem Hintergrund dieser Annahme weniger folgenreich wirkte, ist logisch.
Gus‘ zunehmende Melancholie angesichts des Schicksals von Prosp und seiner Art mag trotz der gelungenen Übersetzung manchen Leserinnen und Lesern zu dick aufgetragen vorkommen. Grimbert gelingt es aber sehr gut, Empathie für Prosp zu erzeugen.
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