Der Ball ist rund
Die 90 Minuten sind vorbei, das Spiel ist verloren, und es beginnt die Pressekonferenz. Vor der wissbegierigen Journalistenschar muss der Trainer nun um Erklärungen ringen: Gegen den Angstgegner habe man noch nie gewonnen, das erste Gegentor sei zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt gefallen – und der teure Mittelstürmer treffe ohnehin seit Wochen kein Scheunentor mehr. All der Ursachenforschung schiebt Andreas Heuer in seinem Buch "Der perfekte Tipp" nun einen Riegel vor – und entzaubert damit einen Mythos. Angstgegner existieren ebensowenig wie besonders ungünstigen Zeitpunkte für Gegentore und schon gar keine Torflauten bei Stürmern. Heuer reduziert Fußball auf Mathematik. Er nennt Zahlen – und die sitzen. Denn Zahlen lassen sich schwer anfechten.
In der Tat offenbart das Buch zahlreiche hochinteressante Wahrheiten über die schönste Nebensache der Welt. In den meisten Fällen nutzt Heuer dazu eine genial einfache Methode: Er untersucht die Korrelation bestimmter Kenngrößen zwischen zwei verschiedenen Saisonhälften. Wie viele Tore mehr hat Bayern München in der Rückrunde im Vergleich zur Hinrunde geschossen? Die Idee: Je mehr der Wert einer Kenngröße sich zwischen Hin- und Rückrunde ähnelt, desto mehr spiegelt diese Kenngröße die wahre Leistungsstärke einer Mannschaft wider. So sagen Punkte recht wenig darüber aus, wie gut eine Mannschaft wirklich ist. Die am Saisonende erreichte Punktzahl resultiere zu 36 Prozent aus dem Zufall. Die beste Auskunft über die wahre Leistungsstärke einer Mannschaft gebe demnach die Torchancendifferenz – und der Marktwert. Geld schießt also tatsächlich Tore!
Der Anhang des Werks ist dabei fast so dick wie der eigentliche Inhalt. Wer kein allzu intensives Verhältnis zur Mathematik pflegt, sollte die Herleitung der Formeln ohnehin besser beiseite schieben. Schon in den einzelnen Kapiteln taucht Heuer zeitweilen bis in den Mariannengraben der Statistik hinab. So steigt auch ein Leser mit wissenschaftlichen Grundkenntnissen durchaus zwischendrin aus. Dennoch transportiert jedes Unterkapitel schließlich doch noch eine populär aufbereitete Botschaft, die regelmäßig das Überraschungsmoment auf seiner Seite hat.
Heuer zeigt, dass nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent die beste Mannschaft auch Deutscher Meister wird – und erklärt, warum der Bayern-Dusel kein Dusel ist, sondern eine logische Folge der Leistungsstärke. Wussten Sie übrigens schon, dass die Chancenauswertung bei allen Teams fast identisch ist? Einzig die Zahl der herausgespielten Möglichkeiten entscheidet über die Zahl der letztlich erzielten Tore. Wozu braucht es dann eigentlich noch teure Stürmer, die das Attribut der Eiseskälte vor dem gegnerischen Torwart für sich beanspruchen? "Der perfekte Tipp" fördert bisweilen verblüffende Erkenntnisse zutage, und zwar auch über die Randphänomene des Spiels. So entlarvt Heuer die Schwachsinnigkeit der Schulnoten, die Sportjournalisten den Profis allmontäglich aufs Auge drücken; und er belegt, dass Schiedsrichter häufig ganz unbewusst die Heimmannschaft bevorzugt behandeln.
Doch das an jeder erdenklichen Stelle mit Zahlen abgeklopfte Werk hat auch seine Schwächen – und zwar immer dann, wenn es zu sehr auf seine Stärke, die Zahlen, die Mathematik, reduziert wird. So wundert sich Heuer, dass der Etat einzelner Vereine kaum Aussagekraft über die Leistungsstärke ihrer Mannschaften zu besitzen scheint. Dabei vergisst er leichtfertig, dass nicht zwangsläufig der Verein mit dem höchsten Etat auch die höchsten Gehälter zahlt. Große Stadien kosten mehr Unterhalt als kleine, und eine professionelle Jugendabteilung schlägt auch aufs Budget. Und dass man stets genauer die Endplatzierung eines Klubs abschätzen kann, je länger die Saison schon läuft, mögen Statistiken sehr konkret belegen – doch darauf würde nach kurzer, scharfsinniger Überlegung sicher auch Nachbars Katze kommen.
Bleibt die Frage, ob es ihn denn nun gibt, den perfekten Tipp? Scheinbar nicht. Sonst hätte der Autor auf seiner eigenen Karibikinsel nach eigener Aussage sicher kein Buch drüber geschrieben. Dennoch verblüfft Heuer mit Ideen, den Gewinn im Wettbüro wahrscheinlicher zu machen als den Verlust. Vielleicht lassen seine Tipps doch bald Buchmacher älter aussehen und füllen das private Festgeldkonto. Wer es ausprobieren mag, sollte dieses Werk auf jeden Fall bei der Planung seiner Sofortrente berücksichtigen.
Zum Ende gesteht Heuer schließlich ohnmächtig, dass auch in Zukunft Trainer entlassen, knappe Niederlagen umständlich erklärt und auf die eklatante Abschlussschwäche verwiesen würde. "Trotzdem hoffe ich, dass die Objektivierung einiger Fakten dabei hilft, etwas rationaler mit der schönsten Nebensache der Welt umzugehen", schreibt er. Aber wollen wir das? Wir Fußballromantiker wollen genau das: Trainerentlassungen und skurrile Erklärungsversuche in den Pressekonferenzen.
Statistik und Fußball? Kann man, aber vielleicht sollte man nicht. "Welche Statistik stimmt schon? Nach der Statistik ist jeder vierte Mensch ein Chinese, aber hier spielt gar kein Chinese mit", wird Werner Hansch in "Der perfekte Tipp" zitiert. Zum Glück operiert Statistik stets nur mit Wahrscheinlichkeiten. Durch sie lässt das Werk die geheimnisvolle Fassade des Fußballs blättern – doch er bleibt trotzdem spannend. Schließlich ist ein typischer Spielausgang zu satten 86 Prozent durch Zufall bestimmt. Das hat Heuer ausgerechnet. Und aus genau diesem Grund ist auch er in diesen Sport verliebt.
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