Mathematik vor zweitausend Jahren
2013 jährte sich zum 2300-sten Mal der Geburtstag des griechischen Mathematikers Archimedes (287-212 v.Chr.). Für die italienische Postverwaltung war das Anlass genug, auf einer Briefmarke an diesen genialen Mathematiker zu erinnern – im Unterschied zur Deutschen Post, deren Marken nur allzu selten Mathematiker oder Motive aus der Mathematik zeigen. Warum Archimedes auch eine deutsche Briefmarke wert gewesen wäre, kann der Leser dem neu erschienenen Buch von Dietmar Herrmann entnehmen. Neben vielen anderen Informationen enthält das Buch ausführliche Erläuterungen, wie Archimedes die Kreiszahl π näherungsweise bestimmte oder die sogenannten Zwillingskreise konstruierte.
Merkwürdigerweise enthält das Werk keinen Hinweis auf den Tätigkeitsbereich des Autors. Man muss Internetsuchmaschinen bemühen, um herauszufinden, dass Dietmar Herrmann Lehrbeauftragter für Informatik an der Fachhochschule München war und unter anderem Bücher zur Chaostheorie und Algorithmentheorie publiziert hat. Schon nach kurzer Lektüre wird deutlich, dass er reichlich Erfahrung in Unterricht und Lehre besitzt.
Das Buch ist äußerst anregend und lesenswert – und enthält deutlich mehr als nur "eine umfassende problemorientierte Darstellung der antiken griechischen Mathematik von Thales bis zu Proklos Diadochus", wie es auf dem Einband heißt. Besonders zu loben sind die mehr als 200 Abbildungen, mit großer Sorgfalt vom Autor selbst erstellt, sowie die aufschlussreichen Darstellungen zum kulturellen und politisch-historischen Umfeld der jeweils betrachteten griechischen Mathematiker. Herrmann würdigt die Leistungen dieser Wissenschaftler angemessen und gibt dabei auch abweichende Einschätzungen von Wissenschaftshistorikern wieder. Zur vertiefenden Recherche führt er ein umfangreiches Quellenverzeichnis mit mehr als hundert Verweisen an. Sein Werk gibt nicht nur wertvolle Anregungen für Facharbeiten und Schülerreferate, sondern kann dank seines hilfreichen Stichwortverzeichnisses auch als Nachschlagewerk dienen.
In ergänzenden Passagen geht Herrmann darauf ein, wie die von den Mathematikern der Antike formulierten Probleme von späteren Wissenschaftlern aufgegriffen und weiterentwickelt oder gar gelöst wurden. Die damit verbundenen chronologischen Sprünge mögen Historiker vielleicht stören, doch erfüllen sie vermutlich den Zweck, erst mögliche Wissenslücken des Lesers zu füllen, bevor die Ausführungen fortgesetzt werden. Das Ergebnis überzeugt und wird mathematisch interessierte Leser erfreuen, auch außerhalb des Schul- und Universitätsbetriebs.
Um ein Beispiel zu nennen: Dem Abschnitt über den griechischen Mathematiker Apollonius von Perge (262-190 v.Chr.) geht ein Kapitel über Kegelschnitte voran, in dem der Autor zunächst die Herkunft der Bezeichnungen "Ellipse", "Parabel" und "Hyperbel" erläutert, um anschließend auf den Zusammenhang mit der seit Descartes üblichen Darstellung im Koordinatensystem einzugehen. Sodann behandelt er die Konstruktionen der griechischen Mathematiker sowie Eigenschaften von Kegelschnitten, stellt die geniale Konstruktionsmethode des arabischen Mathematikers Ibrahim ibn Sinan vor (909-946) und gibt einen Ausblick auf Satz von Poncelet aus dem Jahr 1817.
Insgesamt umfasst das Buch 27 Kapitel, von denen die meisten einzelnen Mathematikern gewidmet sind, etwa Thales von Milet (624-547 v.Chr.), Pythagoras (570-510 v.Chr.) oder Hippokrates von Chios (5. Jh. v.Chr.). Die übrigen Kapitel befassen sich unter anderem mit den Anfängen der griechischen Wissenschaft, mit dem Erbe der hellenistischen Mathematik und der Entwicklung der Trigonometrie.
Der Buchtitel "Die antike Mathematik" verspricht vielleicht etwas zu viel, "Einblicke in die Mathematik der Griechen" wäre angemessener gewesen. Ohne Einschränkung lässt sich jedoch bestätigen, was die Buchwerbung verheißt: "[Eine] Fundgrube von vielfältigen Problemen und Aufgaben für Übung und Vorlesung aus 1000 Jahren Geschichte", "[Ein] Einstieg in die Wissenschaftsgeschichte eines Jahrtausends, das die Grundlagen der europäischen Zivilisation geschaffen hat."
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