Schau mir in die Blüten, Kleiner! wie Pflanzen uns Menschen über Jahrhunderte hinweg für ihre Zwecke eingespannt haben
Pflanzliche Lebewesen bevölkern seit mehr als einer Milliarde Jahre die Erde. Aber zunächst schritt ihre Evolution nur mühsam und im Zeitlupentempo voran, weil es ihnen an den geeigneten Mitteln fehlte, um ihre entscheidende Schwäche wettzumachen: die Unfähigkeit, sich ohne fremde Hilfe von der Stelle zu bewegen. Lange Zeit fiel ihnen nichts Besseres ein, als sich ungeschlechtlich fortzupflanzen — was Vermehrung durch Klonierung bedeutete. Oder sie pflanzten sich zwar sexuell fort, waren aber darauf angewiesen, dass ihre Samen vom Wind oder Wasser durch die Gegend transportiert wurden. Doch vor ungefähr 130 Millionen Jahren kam es zur großen evolutionären Wende. Damals entstanden Pflanzen, deren Samenanlagen nicht mehr frei auf den Fruchtblättern lagen, sondern eingeschlossen in einem Fruchtknoten — die Angiospermae oder Bedecktsamer. Die bedecktsamigen Blütenpflanzen fanden heraus, dass sie ihre Gene wesentlich leichter und effektiver verbreiten konnten, indem sie Insekten und andere Tiere dazu anstifteten, diese Arbeit für sie zu erledigen. Also erzeugten sie eine verschwenderische Vielfalt von Blüten und Duftstoffen, um die für Bestäubungsdienste geeigneten Kandidaten anzulocken. Sie stellten Proteine und Kohlenhydrate her, um der bestäubungswilligen Tierwelt Nahrung als Gegenleistung anbieten zu können. Sie ließen sich außerdem die raffiniertesten Vorrichtungen einfallen, um zu verhindern, dass die von ihnen eingespannten Insekten die Pollen bei Blüten der falschen Art ablieferten. So gelang es ihnen im Laufe der Zeit immer besser, sich auf die tierischen Bedürfnisse einzustellen, sie zu wecken und zu befriedigen. Und dabei wurden sie zu Virtuosen in der Fähigkeit, äußerst komplexe chemische Verbindungen synthetisch herzustellen. Diese Substanzen sollten weitreichende Auswirkungen auf den späteren Gang der Evolution haben. Sie ermöglichten es den bedecktsamigen Pflanzen, das Verhalten der Tiere nach allen Regeln der Kunst zu manipulieren und zu steuern, und nur weil die Bedecktsamer ein umfangreiches Sortiment energiereicher Nahrungsmittel produzierten, konnten große warmblütige Säugetiere entstehen. Ohne den Erfindungsreichtum der Bedecktsamer hätte es den Homo sapiens nie gegeben. Zu einer weiteren großen evolutionären Wende kam es vor ungefähr 10 000 Jahren, gegen Ende der letzten Eiszeit. Aus menschlicher Perspektive betrachtet wurde damals der Ackerbau erfunden, und man begann damit, eine Reihe von Wildpflanzen in Objekte der Auslese und Züchtung zu verwandeln. Aus der Sicht der domestizierten Pflanzen geschah allerdings etwas ganz anderes. Damals — so behauptet der amerikanische Wissenschaftsjournalist Michael Pollan — kam eine Gruppe von Bedecktsamern auf die Idee, ihre altbewährte Strategie auf den Menschen anzuwenden und ihn dazu zu bringen, für sie so zu schuften, wie es die Bienen seit jeher getan hatten. Also entstanden Gräser wie Weizen oder Mais, die der Mensch als Nahrungsmittel verwerten konnte, und deshalb machte er sich sofort daran, die Wälder abzuholzen, um Platz für die zu schaffen. Andere Pflanzenarten spezialisierten sich darauf, den Menschen mit allen Rohstoffen zu versorgen, die er benötigte. Und wieder andere stellten Medikamente und Rauschdrogen für ihn her oder strengten sich an, durch ihr ästhetisches Äußeres seine Aufmerksamkeit zu erregen. Bei alledem machten die Kulturpflanzen kein schlechtes Geschäft. Als Gegenleistung tat ihnen der Mensch den Gefallen, ihren Samen weltweit zu verbreiten, ihnen angenehme Lebensbedingungen zu verschaffen und ihnen ihre pflanzlichen und tierischen Konkurrenten sowie alle schädlichen Mikroorganismen vom Leibe zu halten. Sie profitierten auch davon, dass man sie immer wieder miteinander kreuzte. Zweifelhaft ist allerdings, ob die gentechnischen Manipulationen, die man neuerdings an ihnen vornimmt, ihnen ähnlich gut bekommen werden. Michael Pollan glaubt nicht daran. Durch Lernen aus Versuch und Irrtum stellten sich die Kulturpflanzen immer besser auf die menschlichen Bedürfnisse und Begierden ein und integrierten sie schließlich in ihr Erbgut. Diese Gene sind somit Archive, in denen bis ins letzte Detail verzeichnet ist, was die Kulturpflanzen alles mit den Menschen angestellt haben, was die Menschen umgekehrt mit ihnen angestellt haben, welche Bedürfnisse und Begierden in der menschlichen Natur- und Kulturgeschichte wirksam geworden sind und wie sie sich in Abhängigkeit vom Wandel der gesellschaftlichen Kräfte- und Machtverhältnisse verändert haben. Geleitet von diesen Hypothesen, zeichnet Michael Pollan die evolutionäre Erfolgsgeschichte des Apfels, der Tulpe, des Cannabis und der Kartoffel nach. Außerdem befasst er sich mit den vier Grundbedürfnissen, auf deren Wecken und Stillen sich diese Pflanzen in ihrer Koevolution mit dem Menschen mehr und mehr spezialisiert haben: nämlich mit dem Hunger nach Süße, Schönheit, Rausch und Kontrolle. Dass Pollan dabei gelegentlich in die Anthropomorphismus-Falle tappt und den Kulturpflanzen explizit strategisches Kalkül, Willen und Bewusstsein zuschreibt, schadet kaum. Eines der originellsten, aufschlussreichsten und unterhaltsamsten Bücher der letzten Jahre. Nach seiner Lektüre nimmt man die Welt der Pflanzen mit anderen Augen wahr.
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