Snow von gestern
Wie schauen Literaten auf die Wissenschaft? Wenden sie sich nur ab? Blicken sie gar neidvoll aus den Augenwinkeln heraus oder reicht es nur zu einem schelmischen Blinzeln oder gar einem arroganten Augenaufschlag? Der vielseitige Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, bekannt auch als engagierter Herausgeber, wagt in seinem Werk jedenfalls des öfteren offene und kritische Seitenblicke auf die Entwicklungen und Errungenschaften der Wissenschaften. Das dokumentiert die Anthologie „Die Elixiere der Wissenschaft“, die Texte aus vier Jahrzehnten versammelt: Enzensberger verdichtet unter anderem Forscherbiographien in Balladen und schreibt mit Gedichten gegen unkritische Fortschrittsgläubigkeit und einem Absolutheitsanspruch der wissenschaftlichen Weltsicht an. Seine Essays greifen diverse Aspekte der modernen Wissenschaft und Technik auf: die Lebenswissenschaften und ihre Visionen, das digitale Zeitalter und sein Evangelium, die Großforschungsanlage CERN als Kathedrale. Die Paarung von „harter“ Wissenschaft mit eher „weichen“ Begriffen philosophisch-religiöser Prägung deutet schon an, dass der Autor den Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaft überbrücken möchte. Auffällig ist Enzensbergers Hang zur Mathematik, der auch an anderen Orten zum Vorschein gekommen ist. So widmete Enzensberger 1967 eine ganze Nummer des von ihm herausgegebenen „Kursbuch“ den Grundlagen von Mathematik, Logik und Informatik. Ebenso verfasste er mit dem vergnüglichen „Der Zahlenteufel“ ein Buch, das sicher nicht nur Kindern die Angst vor der Mathematik zu nehmen vermag. Enzensbergers „mathematische“ Gedichte und sein Essay „Zugbrücke außer Betrieb oder Die Mathematik im Jenseits der Kultur“ wollen kein Mathematik-Lehrbuch ersetzen, aber sie öffnen den Blick auf einen blinden Fleck in der allgemeinen Kulturwahrnehmung, machen neugierig. Dabei erteilt er all denen eine Absage, die ihr mathematisches Unverständnis und Unvermögen demonstrativ zur Schau stellen. Ein weiteres wichtiges Standbein der Enzensbergerschen „Wissenschaftsdichtung“ ist die Informatik — allerdings sehr weitgefasst von den Anfängen bei Leibniz und Babbage über Turing und von Neumann bis hin zur Künstlichen Intelligenz-Forschung und dem Internet. In einigen seinen Wissenschaftlerporträts aus den „Balladen des Fortschritts“ verwandeln sich die menschlichen Defizite der genialen Wissenschaftler in Bilder und Metaphern aus der Computertechnik. Faszination paart sich dabei manchmal sogar mit einer gewissen Abscheu. Etwa bei Leibniz: „Hinter der Drahtperücke liegen Schaltkreise, aufgedampft, in sehr dichter Packung“ und „Doch etwas fehlt ihm und zwar sind das die Fehler. Seine ‚menschlichen Züge‘“. Bei den Forscherballaden wüsste man manchmal gerne mehr über die zugrundeliegenden Quellen und Anlässe, aus denen sie sich speisen. Überhaupt wäre es sicher auch interessant gewesen, eine Reflektionen Enzensbergers über die Ursprünge seines eigenen Interesses an der Wissenschaft zu lesen. Auf jeden Fall dürfte die — durchaus kurzweilige und unterhaltsame — Lektüre von Enzensbergers Texten ebenso oft Zustimmung wie Widerspruch hervorrufen und damit zu eigenen Fragen und Gedanken über die Wissenschaft anregen. All denen, die sich gleichermaßen für Literatur wie Wissenschaft interessieren, sei deshalb zum schluckweisen Genuss der „Elixiere der Wissenschaft“ geraten. Ein Postkriptum mit dem Titel „Die Poesie der Wissenschaft“ beschließt das Buch. Wer hier jedoch eine wissenschaftliche Poetologie oder gar eine Versöhnung der berühmten „Zwei Kulturen“ von C. P. Snow erwartet, wird enttäuscht. Die achtzehn durchnummerierten kurzen Abschnitte sind ein interessanter Gemischtwarenladen zum Thema „Literatur und Wissenschaft“, aber nicht mehr. Vielleicht sollen sie auch nicht mehr sein. Trotzdem finde ich einige „Fehlstellen“ etwas ärgerlich. So stellt Enzensberger leichtfertig fest, dass „Philosophie, Dichtung und Wissenschaft ursprünglich Hand in Hand gingen“ und „ihr gemeinsamer Ursprung der Mythos“ sei. Dazu seien „tiefere historische Kenntnisse nicht erforderlich“. Was folgt aus diesem apodiktischen Statement? So etwas verstellt eher die Einsichten über die Herkunft und die Methoden der modernen Wissenschaft. Im Anschluss beklagt er ein das Sterben des Lehrgedichts und füllt mit der Aufzählung wissenschaftlicher Begriffe den dichterischen Metaphernvorrat auf. Auch hier dominiert die beispielhafte Andeutung, es fehlen erhellende und weiterführende Einsichten. Trotz der angemerkten Mängel bestätigt Enzensbergers Buch seine eigene Hoffnung, dass sich „common sense und Theorie (...) nicht wie Katz und Maus begegnen müssen. Vielleicht können sie einander sogar gelegentlich auf die Beine helfen.“ Wer sich noch weiter für literarische Seitenblicke ins Reich der Wissenschaft interessiert, dem seien hier einige Essays des niederländischen Romanciers Harry Mulisch — gesammelt im Buch „Die Säulen des Herkules“ — als kontrastierende Lektüre empfohlen, etwa „Das Licht“ oder „MIHN oder Das Verhältnis von Wissenschaft und Literatur“.
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