Vom Selektionsvorteil zum Luxusgut
"Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn – es sei denn, man betrachtet es im Licht der Evolution." Diese Worte des russischen Evolutionsbiologen Theodosius Dobzhansky überträgt der Tübinger Bioethik-Professor Thomas Junker auf die Kunst. Ein gewagtes Experiment! Denn sowohl die Definition von Kunst als auch das Verständnis von Evolution sind heftig umstritten – selbst unter Wissenschaftlern aus diesen Gebieten. Kann eine Mischehe zwischen den Natur- und den Kulturwissenschaften überhaupt funktionieren, wenn diese beiden Begriffe deren Zentrum bilden?
Junker begegnet der Herausforderung, indem er sein Werk "Die Evolution der Phantasie" so stark strukturiert, dass es fast wie ein Lehrbuch anmutet. Zu Beginn erklärt der Autor, was er unter Kunst versteht: Demnach dienen Musik, Tanz und Malerei als Mittel der Verständigung über unbewusste Gefühle und Wünsche. In diesem Sinne tritt die Kunst in allen menschlichen Kulturen in irgendeiner Form zutage, so Junker.
Ein gemeinschaftliches Verständnis von Kunst sowie ihr kollektiver Ausdruck – etwa in Form von rituellem Körperschmuck – stärke das Zusammengehörigkeitsgefühl von Gruppen, postuliert der Autor. Auf diese Weise könne sie menschliche Gesellschaften zu einem Superorganismus verbinden und ihnen einen Selektionsvorteil verschaffen. Mit der Fähigkeit, sich künstlerisch auszudrücken, beweise ein Mensch zudem, dass er über Talent und Ressourcen verfüge, was bei der Partnerwahl einen Vorteil bringe. Diese These untermauert Junker mit dem Argument, die ersten Formen von Kunst seien etwa zu der Zeit aufgetreten, als die Größenunterschiede zwischen männlichen und weiblichen Individuen allmählich an Bedeutung verloren. Haben Frauen vor zwei Millionen Jahren also damit begonnen, sich nicht mehr nach besonders stattlichen Männern umzuschauen, sondern nach solchen, die besonders eindrucksvolle Faustkeile herstellten? Die Idee wirkt zumindest originell.
Wenn der Autor zwischen den Prinzipien vergleicht, die der Kunst beziehungsweise der Evolution zu Grunde liegen, verlangt er seinen Lesern einiges ab. Für beide Phänomene spielt die Vielfalt eine zentrale Rolle – das lässt sich noch gut nachvollziehen. Doch das Gegenüberstellen von geistigen Innovationen und genetischen Mutationen als Ursachen von Veränderung ist nicht immer sofort eingängig.
Am Ende geht Junker sogar so weit, zu postulieren, dass ein Ende der Kunst zwangsläufig mit dem Ende der Menschheit einhergehen würde. Umso eindrücklicher warnt er vor der Gefahr, die Kunst könne verschwinden, weil die Bedingungen, unter denen sie entstanden sei, nicht mehr existierten. Denn der Einsatz von Technik verstärke visuelle, auditive und andere Reize so sehr, dass sich aus einem Kunstobjekt heraus keine direkten Rückschlusse mehr auf die Ausdruckskraft seines Urhebers ziehen ließen. Entsprechend schließt das Buch mit dem Appell, alles zu versuchen, um die Kunst zu erhalten – ohne jedoch einen klaren Weg vorzugeben, wie sich dieses Ziel erreichen lässt. Vielleicht ist es nicht an der Zeit, den Niedergang der Kunst zu beklagen, sondern sie neu zu definieren?
Trotz des unklaren Endes gelingt es Thomas Junker, eine Brücke zwischen Kultur- und Naturwissenschaften zu schlagen. Eine komplette Synthese erreicht er allerdings nicht – sie würde aufgrund der unterschiedlichen Denkmuster wohl auch erzwungen wirken. Deutlich herauszulesen ist Junkers Prägung durch Ernst Mayr, einen der Gründerväter der synthetischen Evolutionstheorie, mit dem der Autor mehrere Jahre lang eng zusammengearbeitet hat.
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