Die sieben Prinzipien
Die Entwicklung einer Eizelle, das Einordnen von Kunstwerken und das Zuschnappen der Venusfliegenfalle, wenn sich ein Insekt auf ihr niederlässt: Diese drei scheinbar so unterschiedlichen Prozesse beruhen auf den sieben Grundprinzipien, die der Genetiker Enrico Coen als Formel des Lebens beschreibt.
Der Autor, Pflanzen- und Molekularbiologe an einem Forschungszentrum in Norwich, stellt in diesem Sachbuch eine allgemeine Formel auf, die Evolution, Entwicklung, Lernen und menschliche Kultur auf dieselben grundlegenden Prinzipien zurückführt: Variation, Beständigkeit, Verstärkung, Wettbewerb, Wiederholung, Kooperation und Vielfalt. Vom Escherichia-coli- Bakterium bis hin zu den Meisterwerken der Kunstgeschichte bestimmen diese Kräfte demnach alle biologischen und kulturellen Prozesse – kurz: die gesamte Welt, wie wir sie kennen.
Coen nimmt sich 150 Seiten Zeit, um die Grundlagen sehr ausführlich zu erläutern. Er versteht es dabei, wissenschaftliche Erkenntnisse nachvollziehbar zu erklären, ohne sie allzu stark zu vereinfachen. So macht er unter anderem anschaulich deutlich, welche Folgen die Verteilung zweier Proteine beim Taufliegen- Embryo hat, wie Pflanzen den 24-Stunden-Rhythmus messen und warum verschiedene Zebraarten unterschiedlich viele Streifen haben.
Nehmen wir das letzte Beispiel: Auf dem Embryo eines Zebras verteilen sich die Streifen anfangs immer in einem Abstand von 0,4 Millimetern. Da sich die Streifen aber je nach Zebraart an verschiedenen Tagen der Embryonalentwicklung bilden und die Embryonen daher zu diesem Zeitpunkt unterschiedlich groß sind, haben mal mehr und mal weniger Streifen auf ihnen Platz. So hat ein Burchell-Zebra ungefähr 25 Streifen, ein Grevy- Zebra hingegen etwa 80. Dieses Beispiel illustriert, wie sich durch vielfache Wiederholung und im Zusammenspiel mit anderen Faktoren wie dem Wachstum des Embryos die vielfältigen Erscheinungsformen der Arten ausbilden können.
Im Prinzip lässt sich die These des Molekularbiologen jedoch noch weiter reduzieren: auf das Prinzip einer Regelschleife aus Verstärkung (positive Rückkopplung) und Wettbewerb (negative Rückkopplung), die zu relativ stabilen Systemen führt.
Spannend wird die Anwendung dieses Prinzips vor allem dann, wenn er von der Evolutionstheorie, wo der Wettbewerb bekanntlich eine große Rolle spielt, zu anderen Themen übergeht. Auch Lernerfahrungen beschreibt Coen als Rückkopplungsschleifen und erklärt so beispielsweise, wie wir äußere Ereignisse von eigenen Handlungen unterscheiden können. Sitzen wir etwa in einem fahrenden Zug, so sehen wir, dass sich die Umgebung relativ zu uns bewegt. Da wir aber nicht gleichzeitig einen neuronalen Input erhalten, der uns mitteilt, dass wir die Bewegung verursachen, lernen wir, dass es sich um eine externe Bewegung handelt.
Die ersten sechs Kapitel sind besonders gelungen: Der Autor legt hier evolutionsund entwicklungsbiologische Grundlagen mit großem Detailreichtum, aber gleichzeitig sehr verständlich dar. In der Folge wendet er sich den neuronalen Grundlagen des Lernens und schließlich der Entwicklung von Kultur zu. So benutzt er zum Beispiel das Prinzip Verstärkung, um den Erfolg eines Leonardo da Vinci zu erklären: Wenn jeder Besucher nach der ersten Ausstellung seiner Werke nur zwei weiteren Menschen davon berichtete, konnte sich die Kunde vom großen neuen Künstler wie ein Lauffeuer verbreiten.
Coen räumt ein, dass die Übertragung der Formel des Lebens hier nur vom Prinzip her denkbar ist und nicht im einzelnen Detail genau so nachweisbar sein muss. In diesem Sinn beschreibt der Originaltitel „From Cells to Civilizations: The Principles of Change that Shape Life“ (zu Deutsch etwa: Von Zellen zu Zivilisationen. Die lebensformenden Prinzipen der Veränderung) die Position des Autors besser als der deutsche, der die Assoziation einer Suche nach der Weltformel weckt. Diesen Anspruch stellt Coen selbst aber nicht auf.
Mit seinem Buch richtet sich der Autor an interessierte Laien, die auch vor naturwissenschaftlichen Details nicht zurückschrecken. In allen Disziplinen zitiert und erklärt er ausführlich, inwiefern empirische Daten seine Theorie untermauern. Leserfreundlich sind neben den vielen Abbildungen auch die Bezüge zu Kunstwerken, mit denen Coen den Text auflockert. Die zunächst trockene Lektüre gewinnt zunehmend an Unterhaltungswert. Indem Coen neue Zusammenhänge herstellt, eröffnet er spannende Einsichten und regt gerade dort, wo sie etwas spekulativer werden, zum Nachdenken an.
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