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Warum wir seltsam sind

Vieles, was wir tun, erscheint oberflächlich betrachtet paradox, ergibt aber auf einer tieferen Ebene Sinn. Der Psychoanalytiker Stephen Grosz stellt in diesem Buch dreißig Fallbeispiele aus der therapeutischen Praxis vor, die von der "Bewusstwerdung verborgener Geschichten" handeln. Spannend, konzise und sprachgewandt geht er mentalen Prozessen nach, die in vielen von uns stattfinden – oft ohne, dass wir davon ahnen. Ein Vater, der ständig an seinen erwachsenen Kindern herumnörgelt: Der Neid der älteren auf die jüngere Generation. Eine alleinstehende Frau, die bei der Rückkehr von einer Geschäftsreise fantasiert, das Herumdrehen des Haustürschlüssels könne eine installierte Bombe auslösen: Eine Reaktion auf das Gefühl, mit Gleichgültigkeit behandelt zu werden.

Einige der Schilderungen sprechen Probleme an, die wohl jeder schon in seinem Umfeld erlebt hat. So kommt in einer Episode ein Jurist deprimiert in die Sprechstunde des Therapeuten, weil ihm seine Mitmenschen unverhohlen deutlich gemacht haben, dass er sie entsetzlich langweilt. Seine Freundin hat sich deshalb schon von ihm getrennt, und auch seine Klienten meiden ihn. Selbst der Therapeut hat Schwierigkeiten damit: "Je weiter unsere Arbeit gedieh, desto heftiger ödeten mich unsere Stunden an. Vor jeder Sitzung trank ich einen Kaffee und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, was aber kaum half." Ein Blick in die Vergangenheit und das Unterbewusstsein des Juristen lieferte dann entscheidende Hinweise, warum er einen derart destruktiven Gesprächsstil pflegte. Zum einen erlangte der Mann dadurch Kontrolle über den ihm "ausgelieferten" Gesprächspartner, zum anderen konnte er mittels seiner langen Ausschweifungen der Gegenwart entkommen, mit der er sich nur ungern auseinandersetzte.

Zu Beginn jedes Falls tappt der Therapeut meist im Dunkeln, findet aber mit der Zeit einen Anhaltspunkt nach dem anderen, um schließlich die verborgenen Motive der Ratsuchenden aufzudecken. Jedoch steht – wie im wahren Leben – am Ende nie die vollständige und alles erschöpfende Auflösung. Dafür vermittelt jedes Kapitel eine Botschaft, die dem Leser helfen kann, eigene wirre Reaktionen auf Kindheitserfahrungen oder Schwierigkeiten im Erwachsenenleben zu verstehen.

Stephen Grosz spricht ein breites Publikum an; die Lektüre seines Werks erfordert keine tiefenpsychologische Vorbildung. Das Buch ist kurzweilig und inspirierend. Wenn es etwas gibt, was einen als Leser stören könnte, dann höchstens, dass man derart schonungslos einen Spiegel vorgehalten bekommt.

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