Die Insel der unbeantworteten Fragen
Ascension ist eine der abgelegensten Inseln der Welt. Sie liegt mitten im atlantischen Ozean, ein wenig südlich vom Äquator. Brasilien im Westen ist 2200 Kilometer entfernt und die Küste von Angola im Osten 3000 Kilometer. Etwa 1500 Kilometer im Südosten liegt die britische Kolonie Sankt Helena, von der aus Ascension verwaltet wird. Die Insel ist vulkanischen Ursprungs, karg und vor ihrer Entdeckung war sie nur von Seevögeln bewohnt. Ein schiffbrüchiger Seemann aus dem 17. Jahrhundert beschrieb sie mit den Worten: “Jeder hätte gedacht, dass der Teufel persönlich hier seine Wohnstatt genommen und den Eingang der Hölle hierhin verlegt hat.” Aber jedes Jahr ist dieses unwirtliche Eiland das Ziel einer langen Reise für einige tausend Meeresschildkröten. Die atlantische Suppenschildkröte (Chelonia mydas) führt die meiste Zeit ihres Lebens ein einzelgängerisches Dasein in flachen Küstengewässern, wo sie sich von Seegräsern und Meeresalgen ernährt. Aber alle drei bis vier Jahre verspüren die erwachsenen Tiere den Drang an jenen Strand zurückzukehren, wo sie einst geschlüpft waren. Ascension ist einer der bedeutendsten Niststrände für diese bedrohte Tierart. Jährlich werden hier zwischen 6000 und 15 000 Nester angelegt. Die erwachsenen Tiere kommen von der brasilianischen Küste und sind einige Wochen unterwegs bis sie Ascension erreichen. Dies ist eine der erstaunlichsten navigatorischen Leistungen im gesamten Tierreich. Wie aber orientieren sich die Schildkröten, um mitten im Atlantik die kleine Vulkaninsel zu finden? Um es kurz zu machen: keine Ahnung und auch nach der Lektüre dieses Buches weiß der Leser immer noch nicht mehr. Der Autor Sergio Ghione ist Arzt und seine Leidenschaft für Inseln veranlasste ihn 1997, die Meeresbiologen Floriano Papi und Paolo Luschi auf die Insel Ascension zu begleiten. Zwar half er den Forschern dabei, die Suppenschildkröten mit Sendern zu versehen, aber auf den 208 Seiten des vorliegenden Buches breitet er in erster Linie sein gesamtes Allgemeinwissen vor dem Leser aus. Er erzählt von portugisischen Seefahrern und Herodot, den Vulkaninseln Krakatau und Surtsey, Napoleon und Darwin, und der Rolle von Ascension im zweiten Weltkrieg. Dazwischen eingestreut sind Kapitel mit Landschaftsbeschreibungen und kleinen Erlebnissen mit den Bewohnern der Insel. Zitate von Dante und anderen italienischen Dichtern fehlen ebenso wenig wie die Bewertung des Aussehens der weiblichen Angestellten der Royal Airforce. Es geht munter durcheinander, ein roter Faden ist nirgends zu entdecken. Gelegentlich ist in diesem Buch auch mal von Meesresschildkröten die Rede. Immerhin gelingt es den Biologen herauszufinden, dass alle auf Ascension gefangenen und markierten Schildkröten bei ihrem Rückweg einen relativ geraden Kurs nach Westen zur brasilianischen Küste schwimmen. Man kann „Die Insel der Schildkröten“ eigentlich nur Lesern empfehlen, die eine Reise nach Ascension planen und sich ein wenig auf dieses ferne Urlaubsziel einstimmen möchten. Wer sich aber für Meeresschildkröten und ihre erstaunlichen navigatorischen Fähigkeiten interessiert, der wird von diesem Buch bitter enttäuscht werden. Das „ungelöste Rätsel im Atlantik“ wartet daher noch immer auf seine Lösung.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben