Das "Alpha-Tier" muss unerforschlich sein
Bis heute fehlt eine allgemein akzeptierte Definition dessen, was unter Religion eigentlich zu verstehen ist. Nicht einmal die Religionswissenschaftler können ihren Forschungsgegenstand hinreichend präzise bestimmen – wenig verwunderlich bei mehr als 100 000 verschiedenen Glaubensgemeinschaften weltweit mit reichlich einer halben Million Göttern. Gegen entsprechende Versuche der Geisteswissenschaftler setzt der promovierte Biologe Andreas Kilian sein Unternehmen, von der Warte des Biologen her dem nachzugehen, was immer man unter Religion oder Spiritualität verstehen mag.
Eine bessere oder zumindest brauchbarere Definition ist dabei nicht herausgekommen. Doch zieht der Autor alle Register, um nachzuweisen, dass Religion am einfachsten als eine auf das Diesseits bezogene, persönliche und sozialpolitische Erfolgsstrategie zu begreifen sei.
Glaubensinhalte – nach Auffassung Kilians Erfindungen des menschlichen Geistes – seien zwar nicht in irgendeinem Sinn wahr, dafür aber höchst nützlich. Sich auf einen der 500 000 Götter und sonstigen "übernatürlichen Wesen" zu berufen, verschaffe Ansehen, Macht, Reichtum – und die Mittel zur Repression gegenüber Nicht- und Andersgläubigen. Raffiniert verklammere sich religiös motivierter Lug und Trug mit den Strukturen der Gesellschaft, und das bis zum heutigen Tag. Mythen und Argumente folgten einem darwinschen Ausleseprozess ("Evolution der Lüge"): Je gebildeter die potenziell Gläubigen, umso erlesener müsse die Argumentationskunst der Religionsvertreter sein. Das "Alpha-Tier" in der Riege der transzendenten Wesen – sprich: Gott – muss undefinierbar, unerkennbar und letztendlich unbegreifbar bleiben, um jedweder Überprüfung entzogen zu sein. Ganz im Sinn des im Buch zitierten Ambrose Bierce: Die Religion ist eine Tochter der Furcht und der Hoffnung, die den Nichtwissenden das Wesen der Unerkennbarkeit erklärt.
Nicht minder raffiniert sei auch der Versuch der Glaubensvertreter, die Wissenschaft mit ins Boot zu holen. Die Religiösen deuten Schöpfung als "Evolution plus X" und empfehlen eine Art Stillhalteabkommen: Die Religion möge sich nicht in die Wissenschaft einmischen und umgekehrt. Doch das untergräbt unter dem Vorwand der Toleranz ein Grundprinzip der Wissenschaft, nämlich alles in Frage zu stellen und alles kritisch zu untersuchen.
Verhältnismäßig wenig geht Kilian auf die hirnbiologischen Untersuchungen zur Spiritualität ein, obwohl gerade sie doch recht gut erahnen lassen, warum wir – oft dem eigenen Verstand entgegen – eine Neigung zum Mystischen verspüren. Ohne eine solche Tendenz wären die Allgegenwart und der Erfolg der Religionen noch erstaunlicher als ohnehin. Sicher hat der amerikanische Genetiker De"n Hamer mit seinem Buch »Das Gottes-Gen" (2006) zu kurz gegriffen, als er die Neigung zur Spiritualität an einem einzelnen Gen festmachte. Dennoch spricht vieles dafür, dass es charakterlich gebundene Bereitschaften für religiöses Denken gibt, für Hoffen und Glauben – Verhaltenstendenzen, die auf der Kombination von mehreren oder auch vielen Genvarianten beruhen mögen.
Resümee: ein kluger, glänzend formulierter Text auf dem neuesten Stand der Forschung, der Logik dort einsetzt, wo es der anderen Seite an solcher gebricht. Verhaltensbiologische und sozialpolitische Aspekte stehen im Vordergrund. Von der Anlage her mag Kilians Buch anderen naturwissenschaftlich orientierten, religionskritischen Werken der Gegenwart vergleichbar sein, etwa dem "Gotteswahn" von Richard Dawkins oder Daniel C. Dennetts "Den Bann brechen" (rezensiert in Spektrum der Wissenschaft 11/2007, S. 118 und 1/2010, S. 100). Bei weniger als dem halben Umfang aber ist es bündiger in der Diktion und zudem voller eigenständiger Gedanken und Argumente.
Was fängt ein Mensch, der bei den "großen und letzten" Fragen eher alogisch, gefühlsmäßig operiert, mit den Überlegungen des Autors an? Auf der Suche nach Sinn und Trost hofft er auf den rettenden Strohhalm. Das wird er trotz Kilian und der vielen anderen Aufklärer weiterhin tun, so er deren Denkart überhaupt zur Kenntnis nimmt. Und die anderen, die vom Baum der Erkenntnis nicht genug naschen können? Ich bin mir sicher, so manche sehnen sich aus ihren eisigen intellektuellen Höhen hinab in die Ebene der herzerwärmenden Lebenslügen. Schließlich der Autor selbst? Auf Seite 65 kündigt er einen Abschnitt 3.5 zur Sinngebungsrolle der Religionen an, spricht dort aber über etwas ganz anderes: über "Interpretationshoheit ". Zeigt sich hier ein persönliches Problem?
Übrigens: Unter demselben Titel hätte auch ein Buch über die "großen und letzten" Fragen der Quantenmechanik und der modernen Astrophysik geschrieben werden können, Disziplinen, bei denen unsere gewohnte logische Richtschnur über weite Strecken hin ebenfalls versagt. Spätestens dann, wenn es auf der Suche nach einer das Unioder Multiversum gestaltenden Kraft geht, um das anthropische Prinzip also, mischt selbst bei Einhaltung streng wissenschaftlicher Kriterien die Gottesfrage wieder mit – Logik oder Nicht-Logik?
Eine bessere oder zumindest brauchbarere Definition ist dabei nicht herausgekommen. Doch zieht der Autor alle Register, um nachzuweisen, dass Religion am einfachsten als eine auf das Diesseits bezogene, persönliche und sozialpolitische Erfolgsstrategie zu begreifen sei.
Glaubensinhalte – nach Auffassung Kilians Erfindungen des menschlichen Geistes – seien zwar nicht in irgendeinem Sinn wahr, dafür aber höchst nützlich. Sich auf einen der 500 000 Götter und sonstigen "übernatürlichen Wesen" zu berufen, verschaffe Ansehen, Macht, Reichtum – und die Mittel zur Repression gegenüber Nicht- und Andersgläubigen. Raffiniert verklammere sich religiös motivierter Lug und Trug mit den Strukturen der Gesellschaft, und das bis zum heutigen Tag. Mythen und Argumente folgten einem darwinschen Ausleseprozess ("Evolution der Lüge"): Je gebildeter die potenziell Gläubigen, umso erlesener müsse die Argumentationskunst der Religionsvertreter sein. Das "Alpha-Tier" in der Riege der transzendenten Wesen – sprich: Gott – muss undefinierbar, unerkennbar und letztendlich unbegreifbar bleiben, um jedweder Überprüfung entzogen zu sein. Ganz im Sinn des im Buch zitierten Ambrose Bierce: Die Religion ist eine Tochter der Furcht und der Hoffnung, die den Nichtwissenden das Wesen der Unerkennbarkeit erklärt.
Nicht minder raffiniert sei auch der Versuch der Glaubensvertreter, die Wissenschaft mit ins Boot zu holen. Die Religiösen deuten Schöpfung als "Evolution plus X" und empfehlen eine Art Stillhalteabkommen: Die Religion möge sich nicht in die Wissenschaft einmischen und umgekehrt. Doch das untergräbt unter dem Vorwand der Toleranz ein Grundprinzip der Wissenschaft, nämlich alles in Frage zu stellen und alles kritisch zu untersuchen.
Verhältnismäßig wenig geht Kilian auf die hirnbiologischen Untersuchungen zur Spiritualität ein, obwohl gerade sie doch recht gut erahnen lassen, warum wir – oft dem eigenen Verstand entgegen – eine Neigung zum Mystischen verspüren. Ohne eine solche Tendenz wären die Allgegenwart und der Erfolg der Religionen noch erstaunlicher als ohnehin. Sicher hat der amerikanische Genetiker De"n Hamer mit seinem Buch »Das Gottes-Gen" (2006) zu kurz gegriffen, als er die Neigung zur Spiritualität an einem einzelnen Gen festmachte. Dennoch spricht vieles dafür, dass es charakterlich gebundene Bereitschaften für religiöses Denken gibt, für Hoffen und Glauben – Verhaltenstendenzen, die auf der Kombination von mehreren oder auch vielen Genvarianten beruhen mögen.
Resümee: ein kluger, glänzend formulierter Text auf dem neuesten Stand der Forschung, der Logik dort einsetzt, wo es der anderen Seite an solcher gebricht. Verhaltensbiologische und sozialpolitische Aspekte stehen im Vordergrund. Von der Anlage her mag Kilians Buch anderen naturwissenschaftlich orientierten, religionskritischen Werken der Gegenwart vergleichbar sein, etwa dem "Gotteswahn" von Richard Dawkins oder Daniel C. Dennetts "Den Bann brechen" (rezensiert in Spektrum der Wissenschaft 11/2007, S. 118 und 1/2010, S. 100). Bei weniger als dem halben Umfang aber ist es bündiger in der Diktion und zudem voller eigenständiger Gedanken und Argumente.
Was fängt ein Mensch, der bei den "großen und letzten" Fragen eher alogisch, gefühlsmäßig operiert, mit den Überlegungen des Autors an? Auf der Suche nach Sinn und Trost hofft er auf den rettenden Strohhalm. Das wird er trotz Kilian und der vielen anderen Aufklärer weiterhin tun, so er deren Denkart überhaupt zur Kenntnis nimmt. Und die anderen, die vom Baum der Erkenntnis nicht genug naschen können? Ich bin mir sicher, so manche sehnen sich aus ihren eisigen intellektuellen Höhen hinab in die Ebene der herzerwärmenden Lebenslügen. Schließlich der Autor selbst? Auf Seite 65 kündigt er einen Abschnitt 3.5 zur Sinngebungsrolle der Religionen an, spricht dort aber über etwas ganz anderes: über "Interpretationshoheit ". Zeigt sich hier ein persönliches Problem?
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