Der Traum vom reinen Gehirn oder Sehnsucht als statisches Glück
Die Protagonistin Vera Grund — schon der Name ist ziemlich hölzernes Holz — fährt 1925 24-jährig nach Stockholm, um ihren Vater zu suchen, den sie nur einmal, mit sechs, für einen Tag gesehen hat und als eine märchenhafte Marionette, die nur seltsam mechanisch laufen kann, in Erinnerung hielt. Nach einigem Herumirren durchs verschneite, eisige Stockholm bricht sie die Suche mit der Einsicht ab, dass das Glück der Sehnsucht gerade in der Suche selbst besteht — in der Suche, die ihr Ziel (noch) nicht gefunden hat. Die Geschichte von Leo Tager, ihrem Vater, wird mit diesem Plot eng geführt. Tager ist ein interessanter medizinischer Fall: Er glaubt seinen Körper verloren zu haben. Er gerät in die Hände von H.H. Schaumberg, einem wissenschaftlichen Außenseiter, der als „Seelenbiologe” firmiert und glaubt, mittels einer ätherischen „Punktsubstanz” eine ganzheitliche Materialisierung der Seele gefunden zu haben. Was eine interessante medizinische und anthropologische Konstellation sein könnte, bleibt bei Fioretos philosophisch gesehen im 18. Jahrhundert stecken, das mit seinen Äthern, Nerven oder der Sömmeringschen Ventrikelflüssigkeit die Herausforderung Descartes annahm und die Verbindung von Seele und Körper, das commercium mentis et corporis literarisch wie biologisch-medizinisch in einer bunten Vielfalt fantasievoller Varianten durchspielte. Bei Fioretos wird Tager dann nicht durch Schaumbergs skurril-grausame Experimente in vivo, sondern durch die Fitness-Maschinerie eines Kollegen geheilt und läuft zu einem Marionettenballett á la Kleist auf — ein ziemlich eindimensionales Materialismusplädoyer. Wenn der Klappentext dann auch noch eine Reflexion des Rassedenkens der Nazis verspricht — die den Lesern offensichtlich in den Rassefantasien Schaumbergs entgegentreten sollen —, dann heißt das die Sache von hinten aufzäumen: Nur eine vulgär-materialistischer (Irr-) Glaube reduziert den Menschen auf ein Versuchsobjekt; im Übrigen geht es beileibe nicht um Evolutionismus. Die Mechanikgläubigkeit macht der Roman dann auch zum ästhetischen Prinzip: Manieriert werden bekannte Motive aus Naturphilosophie und Anthropologie montiert — etwa die goldene Kette der Wesen, die mit dem Menschen als höchster Stufe und Übergangsglied zum Engelsstand operiert, Galls Schädelphysiognomie oder das Motiv der Reise ins Gehirn (mit dem Stockholm plakativ identifiziert wird; da haben Brentano und Görres mit ihrem Uhrmache BOGS vor zweihundert Jahren schon spannendere Gehirnfahrten inszeniert). Nur dass dieses Gebilde nicht anfängt zu tanzen wie eine Kleistsche Marionette, kein virtuoser Manierismus im positiven Sinne sich entfaltet. Die Fragmente der Erzählung ergeben kein irisierendes Kaleidoskop, bleiben aufgereiht nebeneinander. Lediglich die Passagen aus der Medizingeschichte laufen flüssiger. Weder die Manier noch das blasse Fazit, dass das Glück „dynamisch” sei und sich nicht im Erreichen seines Zieles auslöschen dürfe, beleben dieses Kunstprodukt am Ende wirklich. Letztere Dialektik der Begierde hatte etwa Fichte schon hinter sich gelassen. Bleibt noch anzumerken, dass die Zahl der Druckfehler in diesem leider auch nur geklebten Band nicht eben auf ein aufmerksames Lektorat schließen lassen.
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