Hybris einer Forscherlegende
"Was ist der Mensch?" Diese schwierige Frage versucht Edward O. Wilson, "der berühmteste Biologe unserer Zeit", wie ihn sein deutscher Verlag tituliert, in seinem neuen Buch zu beantworten. Der über 80-jährige Amerikaner wurde als Ameisenforscher bekannt und gilt als Mitbegründer der Soziobiologie. Eine Koryphäe der Entomologie, hat Wilson vor Jahren begonnen, seinen Blick auf andere Wissenschaftsfelder zu erweitern. Schon in "Die Einheit des Wissens" von 1999 empfahl er die Biologie als das Fundament aller Natur- und Geisteswissenschaften.
Nun will er seinen Lesern einen "Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Natur" an die Hand geben. Die Eingangsfrage beantwortet er biologisch, wenn nicht biologistisch – denn die Philosophie habe sich vergeblich um eine Antwort bemüht. Wilson sieht im Menschen quasi eine große Ameise, die in höchst differenzierten Gesellschaften arbeitsteilig lebt. So beruht der Erfolg des Homo sapiens für ihn erst in zweiter Linie auf Vernunft und Kultur, zuvorderst jedoch auf seiner Eigenschaft als "Gruppentier".
Wilson beackert sein Thema von evolutionsbiologischer Seite: Selektion heißt der Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation. Angepasste Individuen tragen ihre Gene im Genpool weiter. Wilson zieht gegenüber der Individual- und Verwandtenselektion jedoch das Konzept der Gruppenselektion vor. Was wirklich zählt, sei der Einsatz für das Kollektiv, die "Eusozialität". Sie sei die Triebkraft für die komplexe Kultur des Homo sapiens, denn nur als soziales Wesen, das in der und für die Gruppe lebe, habe der Mensch eine Chance gehabt.
Ein Schelm, wer einwendet, das habe bereits Aristoteles erkannt (welcher im Übrigen auch schon Parallelen zwischen Ameise und Mensch zog). Wilson ficht das nicht an: Er setzt sich mit der Geistesgeschichte gar nicht erst auseinander. "Die Philosophen" würden sich eh nur stets von Neuem verrennen, so Wilson. Der begnadete Popularisierer ist eben auch ein Simplifizierer, der oft ins Ungefähre abdriftet.
Es grenzt an Hybris, wie nonchalant er die Deutungshoheit der Biologie, ja seines eigenen Ansatzes, verkündet und andere Wissenschaften für überflüssig erklärt. Eine biologische Geschichte des Menschen, so der Untertitel des Buchs, liefert Wilson durchaus. Doch die wahre Dimension der Eingangsfrage, die er zu beantworten vorgibt, hat er nicht erkannt.
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