Geld regiert die Medizin
Frank Wittig ist Wissenschaftsjournalist beim Südwestrundfunk und beschäftigt sich seit Jahren mit Missständen in unserem Gesundheitssystem. Für seine Dokumentationen erhielt er zahlreiche Preise, darunter den Journalistenpreis des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) für das Feature "Betrifft: Überflüssige Operationen". Die evidenzbasierte Medizin (EbM) stützt ihre Therapieempfehlungen auf Metaanalysen mehrerer klinischer Studien, die untersucht haben, ob eine Therapie statistisch signifikante Vorteile für den Patienten bringt oder nicht. Ausschlaggebend sollen dabei die Zielgrößen "längeres Leben" oder "verbesserte Lebensqualität" sein.
Das Konzept der EbM ist vor allem ökonomisch sinnvoll; für Wittig allerdings scheint es das Maß aller Dinge zu sein. Wenn jedoch der Arzt einen konkreten Patienten vor sich hat, den er mit einem Stent an einer Engstelle in den Herzkranzgefäßen möglicherweise vor einem Herzinfarkt schützen kann, dann ist die Tatsache, dass klinische Studien einen Nutzen dieser Maßnahme im Allgemeinen statistisch nicht hinreichend belegen konnten, für ihn weit weg. Er orientiert sich an dem vorwiegend mechanistischen Menschenbild der heutigen Medizin und tut das, was er gelernt hat: Er versucht die Körperfunktionen wieder herzustellen und weiteren Schaden abzuwenden – logisch nachvollziehbar und überzeugend. Dagegen unterstellt Wittig Kardiologen, sie würden bewusst neue Therapiemöglichkeiten entwickeln, die sich in einigen Jahren als nutzlos herausstellen – "ein nachhaltiges Geschäftsmodell, das sich ein paar Jahre lang gut an den Kunden verkaufen lässt". Das klingt doch ein wenig nach Verschwörungstheorie. Was Wittig als bewusste Täuschung und Geldschneiderei darstellt, ist eher die Trägheit einer Planwirtschaft.
An Beispielen wie der arthroskopischen Knorpelglättung am Knie, Gebärmutterentfernungen, vorbeugenden Herzkatheteruntersuchungen und Früherkennung von Prostatakrebs stellt der Autor dar, wie Ärzte wider besseres Wissen Operationen durchführen, deren Nutzen in klinischen Studien widerlegt wurde, die aber besser vergütet werden als konservative Behandlungsmaßnahmen. Er klagt sie pauschal an, nicht an das Wohl des Patienten, sondern nur an den eigenen Geldbeutel zu denken. Aber nicht die Ärzte haben sich das seit 2004 obligatorische Abrechnungssystem nach Fallpauschalen ausgedacht, sondern Bürokraten, die offensichtlich nur "technische" Aktionen am Patienten honorieren. Und es war auch nicht die Idee von Ärzten, sich Betriebswirte vor die Nase zu setzen, die ihnen diktieren, wie viele Patienten sie mindestens zu operieren haben.
Weiter berichtet Wittig, wie Pharmaunternehmen Daten in klinischen Studien zur Zulassung eines Medikaments manipulieren, wie sie die Karrieren ehrgeiziger Mediziner fördern und als Sponsoren die Meinung vorgeblich unabhängiger Gremien beeinflussen. Er stellt die führenden Köpfe der medizinischen Fachgesellschaften an den Pranger, alles renommierte Mediziner, die nach seiner Vorstellung sämtlich mit der Industrie verbandelt sind, da sie ja Karriere gemacht haben, und wirft ihnen vor, beim Erstellen von Therapieleitlinien nur an die Sicherung ihres Einkommens zu denken.
Sicher hat Wittig in vielen Dingen nicht Unrecht. Insbesondere die enge Verbindung von Industrie, Meinungsbildnern und medizinischer Forschung gibt Anlass zu Bedenken (siehe die Artikel in diesem Heft S. 30 und 36). Aber es ist einseitig, die Misere unseres Gesundheitssystems allein auf die Geldgier der Beteiligten zurückzuführen. Die Sache liegt viel komplexer, schon weil es sich nicht um unbelebte Ware handelt und der Erfolg der Dienstleistung in der Regel nicht garantiert werden kann. Wenn tatsächlich menschliches Handeln nur noch durch finanzielle Anreize gesteuert würde, wäre das ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, aber nicht der Fehler einer einzelnen Berufsgruppe.
Hier misst der Autor die Moral von Mitarbeitern der Pharmaindustrie sowie Geräteherstellern einerseits und Ärzten andererseits mit zweierlei Maß. Während er die Machenschaften der Pharmaindustrie allenfalls als "unerhört" bezeichnet, nennt er Ärzte "freche Lügner und Betrüger", unterstellt ihnen "schamlose Geldgier" und beschuldigt sie des "Diebstahls" und der "Körperverletzung". Die Erwartungshaltung an Ärzte ist offensichtlich extrem hoch: Sie sollen weder nach Macht und Anerkennung streben noch finanzielle Interessen haben und sich am besten mit dem Dank und dem Vertrauen ihrer Patienten zufrieden geben. Ein Vertrauen, das dieses Buch weit gehend zerstört.Beim Thema "Übertherapie am Lebensende" scheint Wittig zum ersten Mal auch andere Beweggründe in Betracht zu ziehen. Vielleicht sei es – welch Wunder – die Absicht zu helfen, welche die Ärzte zuweilen zu blindem Aktionismus verführe. In seinem Schlusswort sagt er zwar, es gebe viele Mediziner, die trotzdem einen guten Job machen. Dennoch bleibt nach der Lektüre dieses Buchs der Eindruck bestehen, man könne seinem Arzt eigentlich nicht mehr trauen.
Die breite gesellschaftliche Diskussion zur Medizinwende, die Wittig mit seinem Buch anstoßen will, ist sicher notwendig. Der Leser findet durchaus erhellende Informationen zu den Verflechtungen verschiedenster Interessengruppen in unserem Gesundheitssystem. Insofern mag das Buch lesenswert sein. Wittig macht es sich jedoch zu einfach, indem er Ärzten reine Habgier und Opportunismus unterstellt und sie zu den hauptschuldigen "Profiteuren, Kollaborateuren und Mitläufern" macht. Für wen das Wasser auf seine Mühlen ist, der findet in diesem Buch Bestätigung. Für alle anderen sollte die Botschaft ausreichen, dass ein gesundes Misstrauen im Kontakt mit unserem Gesundheitssystem durchaus angebracht und das Einholen einer Zweitmeinung absolut legitim ist.
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