Lassen wir Gras über die Sache wachsen!
Im Jahre 1830 ließ sich ein gewisser Edwin Budding eine Erfindung patentieren, für die er sich gute Absatzchancen bei der englischen Landaristokratie ausrechnete. „Herrschaften auf dem Lande“, verkündete er, „werden feststellen, dass ihnen mein Apparat Gelegenheit zu einer unterhaltsamen, nützlichen und gesunden Leibesübung bietet.“ Mr. Budding konnte nicht ahnen, welche umwälzenden Veränderungen sein unscheinbarer Apparat — bei dem es sich um den ersten Rasenmäher handelte — heraufbeschwören sollte. Heute haben sich Millionen amerikanischer Eigenheimbesitzer einem exzessiven Rasenkult verschrieben. Die Gebiete, die von ihren monotonen Rasenteppichen überzogen werden, ergeben zusammengenommen ein Areal von acht Millionen Hektar — und damit eine Unkrautplantage, die ungefähr so groß ist wie ganz Irland. In die Anlage und Pflege der Rasen werden in den Vereinigten Staaten jährlich 25 Milliarden Dollar und unzählige Millionen Arbeitsstunden investiert. Dabei werden pro Hektar bis zu zehnmal mehr chemische Schädlingsbekämpfungsmittel eingesetzt als in der Landwirtschaft. Hinzu kommt, dass die meisten amerikanischen Rasen in Regionen mit äußerst ungünstigen klimatischen Bedingungen angepflanzt werden. Sie müssen deshalb mit ungeheurem Aufwand bewässert werden. Der Rasenkult ist ein mysteriöses Phänomen. Häufig wird behauptet, dass er ausschließlich westlichen Ursprungs und allenfalls einige Jahrhunderte alt sei. Manche Evolutionsbiologen weigern sich allerdings, in ihm nur eine Laune der Kultur zu sehen. Nach der Theorie, die Gordon H. Orians verficht, gibt es sogar eine genetisch verankerte Vorliebe für Steppenlandschaften. Diese Vorliebe soll sich entwickelt haben, weil die Hominiden die Bäume verlassen und sich stattdessen für die Savanne als Lebensraum entschieden haben. Dieses neue Milieu bot ihnen etliche Vorteile: Huftiere, die gutes Fleisch lieferten; vielfältig nutzbare Pflanzen; Bäume, die sich als Zufluchtsorte eigneten; endlich ein übersichtliches Gelände, das es ermöglichte, Raubtiere rechtzeitig auszumachen. Der einzige Nachteil war die Wasserknappheit. Aber sie kam den Jägern entgegen, die dem Wild an den Wasserstellen auflauern konnten. Alles das, behauptet Orians, spricht dafür, dass die Neigung zu grasbewachsenen Ebenen der menschlichen Spezies angeboren ist. Ob Orians Recht hat, hält David Quammen für eher unwahrscheinlich. Umso entschiedener tritt er dafür ein, die Rasen abzuschaffen und sie durch Wildwiesen, Büsche, Sträucher und Bäume zu ersetzen. Der amerikanische Wissenschaftsjournalist David Quammen hat vor einigen Jahren mit einem ungewöhnlichen Buch Furore gemacht — mit der inzwischen klassisch gewordenen Abhandlung „Der Gesang des Dodo“, die sich auf fast 1000 Seiten mit den Besonderheiten insularer Ökosysteme befasst. Ungewöhnlich sind auch die essayistischen Reportagen, die Quammen in den 80er und 90er Jahren für die Zeitschrift „Outside“ geschrieben hat. Eine Auswahl der 25 besten sind in seinem neuesten Buch versammelt. In irgendeiner Hinsicht merkwürdig sind alle Dinge, mit denen sich Quammen in seinen Essays beschäftigt. Er grübelt über die Ursprünge der Schlangen- und der Spinnenphobie nach und versucht zu ergründen, warum diese Phobien nicht selten unabhängig voneinander auftreten. Er fragt sich, warum Katzen vom Hochmittelalter bis weit in die Neuzeit hinein mit abgrundtiefem Hass verfolgt worden sind und wie sie es schaffen, Stürze aus extremen Höhen zu überleben. Er plagt sich mit dem Mysterium ab, warum es die Männchen der meisten Vogelarten versäumt haben, sich einen Penis zuzulegen. Und er befasst sich mit einem Phänomen, für das die Evolutionsbiologie immer noch keine Erklärung gefunden hat: die immense Vielfalt der Käferarten. Ein anderer Essay ist dem seltsamen „Kesselblechnashorn“ gewidmet, das Albrecht Dürer im Jahre 1515 in einem Holzschnitt dargestellt hat. Dürer kannte allerdings das Rhinozeros nachweislich nur vom Hörensagen, und deshalb wird immer wieder behauptet, dass es sich bei dieser Darstellung um ein groteskes Fantasieprodukt handeln würde. Quammen erweckt zunächst den Eindruck, als würde er diese Auffassung vorbehaltlos teilen. Doch dann überrascht er mit entlastendem Material, und am Ende plädiert er dafür, Dürer zu rehabilitieren. Überraschendes hat Quammen auch über Henry David Thoreau zutage gefördert. Thoreau gilt immer noch als der große Zivilisationsflüchtling, der jahrelang als Einsiedler in der Wildnis lebte. Doch in Wahrheit lag das Waldgebiet um den Walden Pond in unmittelbarer Nähe einer Bahnlinie. Und in Thoreaus Hütte, die keine zwei Kilometer von seinem Elternhaus entfernt war, herrschte meistens ein reger Betrieb. Quammen lässt aber trotzdem keinen Zweifel daran, dass er den Schriftsteller und Philosophen Thoreau nach wie vor bewundert. David Quammen hat manchmal die Neigung, sich in Skurrilitäten und Absonderlichkeiten zu verlieren. Aber seine besten Essays sind Beiträge zur politischen Ökologie, die neue Einsichten in die Verhältnisse zwischen Mensch und Natur eröffnen. Ein herausragendes Buch.
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