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Apokalyptische Visionen

Ereignet sich gerade eine Bildungskatastrophe gigantischen Ausmaßes? Verblödet und verroht eine ganze Generation? Sind gar die Grundlagen unserer Gesellschaft in höchster Gefahr? Gesetzt den Fall, es wäre so – warum schlägt dann niemand Alarm? Obwohl, einen Rufer in der Wissenswüste gibt es doch: Manfred Spitzer, Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm und Autor diverser medienkritischer Bücher. In seinem – mit medialer Unterstützung! – bereits zum Bestseller avancierten Buch entwirft der Promi-Hirnforscher ein düsteres Bild des digitalen Zeitalters und seiner Folgen für den Menschen. Leider tut er dies auf eine Art, die zum Widerspruch herausfordert.

Spitzer, von Haus aus Psychiater, beschreibt zunächst die Flexibilität des menschlichen Gehirns: Geistiges Training führt zur Neuverschaltung von Nervenzellen und lässt bestimmte Hirnregionen wachsen, nach neuesten Erkenntnissen sogar lebenslang. Kognitive und soziale Anregungen sind deshalb vom Baby- bis zum Greisenalter immens wichtig für die Gesundheit. Die Interaktion mit Bildschirmmedien jedoch würde zunehmend reale Kontakte ersetzen und, so Spitzer, das Gehirn grundsätzlich schädigen.

Man mag zustimmen, wenn Spitzer etwa kommerzielle Unterhaltungsprodukte wie Baby- DVDs geißelt, weil sie Sprach- und Entwicklungsverzögerungen hervorrufen können, wie er mit zahlreichen Studien untermauert. Dass der Hirnforscher an dieser Stelle schon eine Verbindung zu Altersdiabetes und Demenz suggeriert, ist jedoch fragwürdig. Hier kündigt sich eine im weiteren Verlauf zunehmend polemische Argumentation an. Schüler im Unterricht mit Computern zu konfrontieren, sei beispielsweise so, als würde man sie "anfixen" und auf eine Suchtkarriere vorbereiten, behauptet Spitzer. Leute, die diese Medien verbreiten, vergleicht er mit Waffenhändlern, "deren Geschäft der Tod ist". Medienkompetenz zu lehren, wäre angesichts dessen völlig sinnlos. Die Kommunikation in sozialen Netzwerken wie Facebook lasse bei Jugendlichen diverse Hirnregionen schrumpfen und könne zu zahlreichen psychischen Störungen führen. Die Spielkonsole im heimischen Kinderzimmer sei ein Garant für schlechte Noten und gestörte Sozialkontakte. Und häufiger Konsum medialer Gewalt führe "in der Regel" zu Gewalttätigkeit. Allein diese letzte Behauptung ist in einer derart pauschalen Formulierung äußerst zweifelhaft.

Spitzer ist laut eigenem Bekunden stolz darauf, keinen Fernseher zu besitzen, und zählt eine Vielzahl an weiteren Störungen auf, deren Ursache er quasi gesetzmäßig in den modernen Medien verortet. Er hat sich wirklich Mühe gegeben, triftige Studienbelege zu finden, wie auch das umfangreiche Literaturverzeichnis beweist. Doch der Autor zitiert eben fast ausschließlich Untersuchungen, die seine Thesen zu stützen scheinen, lässt aber die zahlreichen Arbeiten unter den Tisch fallen, die zu anderen Ergebnissen kamen. Immerhin gibt er zu, dass Langzeitstudien zu den psychischen Folgen der modernen Mediennutzung noch gar nicht existieren.

Am Ende mündet das Ganze in einen wütenden Aufschrei – gegen Experten, Fachkomissionen und Politiker. All jene, die Positives über die Auswirkung digitaler Medien sagen, seien ahnungslos oder Lobbyisten der Medienindustrie. Die Haltung, die Spitzer hier einnimmt, ist anmaßend – stellt er sich doch quasi als alleinigen Hüter der Wahrheit dar. Schade! Denn das Thema ist durchaus diskussionswürdig. Und da der Autor unterhaltsam-pointiert formulieren kann, ist sein Buch auch für Laien verständlich. Schön auch, dass jedes Kapitel mit einem Fazit endet, das einerseits rekapituliert, andererseits auch ergänzende Gedanken enthält. Wären da nicht die apokalyptischen Visionen, in denen sich ganz grundsätzliche Vorurteile gegenüber elektronischen Medien ausdrücken.

  • Quellen
Gehirn und Geist 11/2012

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