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Panoptikum des Sprachwandels

Mitte des 19. Jahrhunderts machte sich unter Linguisten Ratlosigkeit breit: Warum wurde die Grammatik in fast allen Sprachen immer simpler? Schlampige Aussprache schliff jahrtausendealte Kasusendungen ab, unregelmäßige Verben verschandelten einst perfekte grammatische Systeme, und der Konjunktiv wich umständlichen Umschreibungen.

Wie eine "in die Länge gezogene Obduktion" müsse den Kollegen ihre Disziplin vorgekommen sein, schreibt heute rückblickend Guy Deutscher, selbst Sprachwissenschaftler von der Universität Leiden in den Niederlanden. Erst vor wenigen Jahrzehnten hätten die Linguisten erkannt, dass eben jene Kräfte, die für den Sprachverfall verantwortlich sind, auch für ihren Neuaufbau sorgen. Sie seien so allgegenwärtig, dass viele Wissenschaftler sie wohl schlicht übersahen.

Welche Kräfte dabei am Werk sind, ist jetzt in Deutschers Geschichte der Grammatik nachzulesen. An erster Stelle nennt er die ("ökonomische") Neigung zur Verkürzung, die sogar ein neues grammatisches System hervorbringen könne, zum Beispiel die Verbalendungen des französischen Futurs. Eine weitere Triebkraft sei die "Expressivität" – der Drang, bildhaft zu formulieren. Er lasse die gebräuchlichen Ausdrücke verkümmern, bis sie als bloßes Anhängsel eine grammatische Funktion übernehmen. Sprache wachse auf diese Weise "wie ein Riff aus toten Metaphern", erklärt Deutscher. Als dritte Kraft im Bunde wirke die menschliche Neigung, Analogien zu bilden: Sie weite zufällige Regelmäßigkeiten zu neuen Systemen aus.

Vor den Augen des Lesers knackt Deutscher damit die härtesten Nüsse des Sprachwandels, zum Beispiel die Entstehung bestimmter arabischer Wortformen, die so konstruiert wirken wie keine andere sprachliche Struktur. Und er spekuliert sogar darüber, wie sich moderne Idiome aus einer "Ich-Tarzan-Sprache" menschlicher Vorfahren entwickelt haben könnten.

Deutschers Panoptikum des Sprachwandels steckt voller Beispiele und macht einfach Spaß: ein wenig aus Molières Komödien hier, ein paar szenische Einlagen dort. Warum hieß noch bei Luther "schlecht" so viel wie "gut"? Warum ist die Wortstellung im Türkischen im Vergleich zum Englischen spiegelverkehrt? Wo das Original mit englischen Beispielen hantierte, gelang es Übersetzer Martin Pfeiffer, die passenden deutschen Parallelen zu finden.

Allerdings hätte Deutscher einige allzu weitschweifige und verspielte Einlassungen eindampfen können, zu Gunsten etwa von Verweisen auf aktuelle Forschungen. Hier kommt eine Schwäche des Buchs zum Vorschein: Man spürt die Angst des Autors (oder möglicherweise des Verlags), den Leser bloß nicht zu überfordern. Trotzdem ist das Buch eine ebenso spannende wie wissenschaftlich fundierte Replik auf die Unkenrufe der Kulturpessimisten und Sprachuntergangspropheten.

"Die Sprache verhüllt die Kunst, die in ihr steckt", schreibt Deutscher. Wer mit ihm hinter den Schleier blickt, erkennt, wie lebendig sie tatsächlich ist – und kann sich von der Begeisterung des Autors anstecken lassen.
  • Quellen
Gehirn und Geist 03/2009

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