Fragile Kostbarkeit
Eine der bedeutendsten Errungenschaften, die die Neuzeit hervorgebracht hat, ist die Anerkennung der Menschenwürde. Der italienische Philosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) gab dem Begriff mit seiner "Rede über die Würde des Menschen" eine neue Bedeutung, nachdem dieser in der Antike vorrangig politisch besetzt gewesen war. Pico verknüpfte Würde und Freiheit miteinander und wies ihnen eine herausragende Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen zu. Auch für Immanuel Kant (1724-1804) war die Würde ein konstituierendes Merkmal des Menschseins. Kein Mensch darf ihm zufolge als Mittel betrachtet oder gar benutzt werden.
Daraus begründet sich – um ein ungewöhnliches Beispiel zu nennen – etwa das Verbot des Zwergenwerfens. In den 1990er Jahren hatte sich ein kleinwüchsiger Mann den Besuchern einer französischen Diskothek für dieses zweifelhafte Vergnügen zur Verfügung gestellt. Schließlich wurde es ihm gerichtlich untersagt, und zwar in letzter Instanz vom Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen. Die Begründung lautete, die Menschenwürde stehe über der freien Berufswahl beziehungsweise Freizeitgestaltung. Diesen Fall greift der Schweizer Philosoph und Romancier Peter Bieri in seinem neuen Buch auf, um Kants Ethik konkret zu veranschaulichen. Auch für Bieri steht fest, dass der Mensch nicht als Ding behandelt werden darf. Aus diesem Grundprinzip heraus zeigt er die vielen Nuancen der menschlichen Würde auf.
Der Schweizer Philosoph betont, dass er keine neue Theorie der Würde aufstellen möchte, und schenkt auch gegenwärtigen Debatten – etwa um die Würde von Embryonen – kaum Beachtung. Er schreibt, dass der Begriff der Würde historisch abgeleitet wurde aus der Vorstellung vom Menschen als einem Gesetzgeber, also aus seiner Autonomie. Bieri spricht jedoch lieber von "Autorität" und koppelt Würde an Erfahrung. Jeder Mensch ist für ihn ein "Zentrum des Erlebens", und Würde demnach "eine bestimmte Art und Weise, ein menschliches Leben zu leben". Nicht so sehr die Vernunft führe dabei Regie, sondern Gefühle und Empathie. Würde sei keine Medaille, die verliehen werde, sondern werde gelebt, wenn Menschen achtungsvoll miteinander umgingen.
Bieri diskutiert hierbei drei verschiedene Perspektiven: Wie man zu sich selbst steht, wie man andere Menschen behandelt und wie andere Menschen mit einem umgehen. Er empfiehlt etwa eine Therapie, wenn jemand seine innere Selbstständigkeit und Achtung verloren hat. Auch setzt er sich mit Begriffen wie Ohnmacht, Erniedrigung, Demütigung und Selbstaufgabe auseinander. Unter anderem stellt er die Frage, wie man einen Verbrecher bestrafen kann, ohne ihm die Würde zu nehmen – und ab wann die Bestrafung in blinde Vergeltung umschlägt. Dabei setzt er sich mit heiklen Themen auseinander wie den amerikanischen Gefangenenlagern in der Guantanamo Bay Naval Base oder den Geschehnissen in dem berüchtigten Abu-Ghraib-Gefängnis.
Zudem zieht Bieri etliche Anregungen aus Kunst und Literatur, etwa aus George Orwells Erzählung "1984", Arthur Millers Drama "Tod eines Handlungsreisenden" oder Edward Albees Theaterstück "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?". Er überprüft einzelne Szenen daraufhin, welche Worte die Würde verletzen, wann sich die Akteure durch Gesten oder Taten erniedrigen und wann sie gedemütigt werden. Der Philosoph spinnt den Stoff selbst weiter, variiert ihn und lotet aus, wie die Charaktere ihre Würde wahren könnten. Oft, so zeigt er, braucht es nicht viel, um einem Menschen Achtung zu erweisen – oder auch ihn zu entehren. Denn die Würde sei fragil. Täglich werde sie angetastet, im privaten wie im öffentlichen Leben.
Peter Bieris Buch ist anschaulich und sympathisch. Es verdeutlicht, warum wir diese Errungenschaft namens Menschenwürde nicht leichtfertig aufgeben sollten.
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