Die Motive der Welträtsellöser
Die meisten erkennt man bereits an den Umschlägen: voluminöse DIN-A4-Sendungen, handschriftlich adressiert, die Briefmarken penibel an den Kuvertkanten ausgerichtet. "An die Spektrum-Redaktion" oder "Dem Chefredakteur persönlich" steht außen. Innen erklärt der Absender, wie sich das Problem des freien Willens dank Quantenmechanik und Entropiesatz in Wohlgefallen auflöse – oder warum die Relativitätstheorie doch nicht stimme. Nur wage es niemand, diese Wahrheit auszusprechen. Niemand außer dem Autor, versteht sich.
Milena Wazeck hat derlei Experten in ihrer wissenschaftshistorischen Dissertation einen Namen gegeben: Welträtsellöser. Die Politikwissenschaftlerin sichtete den 2004 erschlossenen Nachlass des Physikers Ernst Gehrcke (1878–1960). Der spätere Direktor der optischen Abteilung der Physikalisch- Technischen Reichsanstalt hatte sich in den 1920er Jahren durch kritische Veröffentlichungen zur Relativitätstheorie und ihrer populären Rezeption hervorgetan und war dadurch zu einem Vertrauensmann etlicher Einstein-Kritiker avanciert. Sie schickten ihm Briefe, Pamphlete, Zeitungsausschnitte.
Schnell wuchs Gehrckes Sammlung auf 5000 Dokumente an; rund 2700 davon sind erhalten geblieben. Eine einzigartige Sammlung, die Auskunft gibt über die Motive sowie die sozialen und institutionellen Hintergründe einer Front gegen den Schöpfer der Relativitätstheorie, die sich in der frühen Weimarer Republik formierte. Wazeck definiert Welträtsellöser als Forscher außerhalb der akademischen Wissenschaft, die jedoch nach eigenem Verständnis auf Augenhöhe mit den Ordinarien diskutieren können – meist auf der Grundlage eigener "Studien".
Die Analyse des Gehrcke-Archivs zeigt: Vor allem Ingenieure, Ärzte und Juristen zählten zu Einsteins frühen Opponenten; von verschiedenen Seiten und mit teils widerstreitenden Argumenten nahmen sie seine Relativitätstheorie in die Zange. Was die "freien Naturforscher" einte, war das Bemühen, die eigenen Wissensbestände gegen die als bedrohlich empfundene moderne Physik zu verteidigen. Die meisten Welträtsellöser vertraten dabei ein ganzheitliches, von Ehrfurcht vor der lebendigen Natur gekennzeichnetes Weltbild, einige mit einem deutlichen Hang zur Esoterik.
Die Autorin beschreibt in klugen Ausführungen den ideologiegeschichtlichen Kontext dieses Milieus – und verfolgt ihn dann doch nicht bis zu seinem geistigen Paten zurück: Johann Wolfgang von Goethe. Dem Nachhall von Goethes Naturanschauung in der deutschen Geistesgeschichte, die sich in Werken wie der "Metamorphose der Pflanze" und der "Farbenlehre" manifestiert, verdanken wir bis heute holistische Konzepte der Naturerklärung, die in den experimentellen und mathematischen Methoden der modernen Naturwissenschaft zersetzende, lebensfeindliche Kräfte am Werk sehen. Beredtes Zeugnis davon geben etwa die Texte der beiden Schriftsteller (und Ärzte!) Gottfried Benn und Alfred Döblin, Zeitgenossen von Einstein.
Viele Einstein-Gegner hatten die neue Theorie, gegen die sie anschrieben, nicht einmal ansatzweise verstanden. Mit den Jahren verliehen sie ihren Tiraden denn auch eine neue Stoßrichtung, echauffierten sich darüber, von dem mittlerweile prominenten Einstein und seinem Umfeld ignoriert, ja aktiv ausgegrenzt zu werden. Dies belegt Wazeck mit einer Fülle von Quellen weit über den Gehrcke-Nachlass hinaus. Es gelingt ihr, die Konflikte, die auch einzelne Fachkollegen mit Einstein in Briefwechseln oder öffentlich austrugen, lebendig werden zu lassen.
Allerdings blendet die Autorin die allgemeine politische und gesellschaftliche Entwicklung der Jahre, über die sie schreibt, komplett aus. Und das ist für die Zeit nach 1919, als Einstein durch die Sonnenfinsternis- Beobachtungen der Royal Society auf einen Schlag weltberühmt wurde, ein schweres Manko. Viele Zeitgenossen stießen sich nicht nur an der Relativitätstheorie, sondern auch daran, dass ihr Schöpfer Jude war und obendrein politisch links stand. So kulminierten immer mehr Attacken jener Jahre in dem Vorwurf, Einstein werde von linken und liberalen Medien hofiert und betreibe unlautere "Reklame" für eine die Gesellschaft gefährdende relativistische Weltanschauung.
Hier stellten Einsteins Kritiker implizit – einzelne auch explizit – Querbezügen zu Texten wie den berüchtigten "Protokollen der Weisen von Zion" her, jener gefälschten antijüdischen Propagandaschrift, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg in mehreren Varianten hohe Auflagen erzielte und auch von Zeitungen abgedruckt wurde. Vor diesem Hintergrund wurde der Physiker sogar als Protagonist einer "jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung" an den Pranger gestellt.
Die Physik geriet damit zu einem wichtigen Schauplatz der allgemeinen ideologischen Grabenkämpfe in der politisch instabilen ersten deutschen Republik. Einstein selbst arrivierte in den 1920er Jahren zu einem Lieblingsfeind von Ultrakonservativen, Völkischen und Nationalsozialisten.
Auch wenn von der "öffentlichen Kontroverse um die Relativitätstheorie in den 1920er Jahren" (Untertitel) damit ein entscheidender Teil fehlt: Die umsichtige Analyse der von "Welträtsellösern" und einzelnen Fachkollegen gegen Einstein geführten Kampagnen rundet unser Bild von den Hintergründen der Anti-Einstein-Debatten jener Zeit ab.
Milena Wazeck hat derlei Experten in ihrer wissenschaftshistorischen Dissertation einen Namen gegeben: Welträtsellöser. Die Politikwissenschaftlerin sichtete den 2004 erschlossenen Nachlass des Physikers Ernst Gehrcke (1878–1960). Der spätere Direktor der optischen Abteilung der Physikalisch- Technischen Reichsanstalt hatte sich in den 1920er Jahren durch kritische Veröffentlichungen zur Relativitätstheorie und ihrer populären Rezeption hervorgetan und war dadurch zu einem Vertrauensmann etlicher Einstein-Kritiker avanciert. Sie schickten ihm Briefe, Pamphlete, Zeitungsausschnitte.
Schnell wuchs Gehrckes Sammlung auf 5000 Dokumente an; rund 2700 davon sind erhalten geblieben. Eine einzigartige Sammlung, die Auskunft gibt über die Motive sowie die sozialen und institutionellen Hintergründe einer Front gegen den Schöpfer der Relativitätstheorie, die sich in der frühen Weimarer Republik formierte. Wazeck definiert Welträtsellöser als Forscher außerhalb der akademischen Wissenschaft, die jedoch nach eigenem Verständnis auf Augenhöhe mit den Ordinarien diskutieren können – meist auf der Grundlage eigener "Studien".
Die Analyse des Gehrcke-Archivs zeigt: Vor allem Ingenieure, Ärzte und Juristen zählten zu Einsteins frühen Opponenten; von verschiedenen Seiten und mit teils widerstreitenden Argumenten nahmen sie seine Relativitätstheorie in die Zange. Was die "freien Naturforscher" einte, war das Bemühen, die eigenen Wissensbestände gegen die als bedrohlich empfundene moderne Physik zu verteidigen. Die meisten Welträtsellöser vertraten dabei ein ganzheitliches, von Ehrfurcht vor der lebendigen Natur gekennzeichnetes Weltbild, einige mit einem deutlichen Hang zur Esoterik.
Die Autorin beschreibt in klugen Ausführungen den ideologiegeschichtlichen Kontext dieses Milieus – und verfolgt ihn dann doch nicht bis zu seinem geistigen Paten zurück: Johann Wolfgang von Goethe. Dem Nachhall von Goethes Naturanschauung in der deutschen Geistesgeschichte, die sich in Werken wie der "Metamorphose der Pflanze" und der "Farbenlehre" manifestiert, verdanken wir bis heute holistische Konzepte der Naturerklärung, die in den experimentellen und mathematischen Methoden der modernen Naturwissenschaft zersetzende, lebensfeindliche Kräfte am Werk sehen. Beredtes Zeugnis davon geben etwa die Texte der beiden Schriftsteller (und Ärzte!) Gottfried Benn und Alfred Döblin, Zeitgenossen von Einstein.
Viele Einstein-Gegner hatten die neue Theorie, gegen die sie anschrieben, nicht einmal ansatzweise verstanden. Mit den Jahren verliehen sie ihren Tiraden denn auch eine neue Stoßrichtung, echauffierten sich darüber, von dem mittlerweile prominenten Einstein und seinem Umfeld ignoriert, ja aktiv ausgegrenzt zu werden. Dies belegt Wazeck mit einer Fülle von Quellen weit über den Gehrcke-Nachlass hinaus. Es gelingt ihr, die Konflikte, die auch einzelne Fachkollegen mit Einstein in Briefwechseln oder öffentlich austrugen, lebendig werden zu lassen.
Allerdings blendet die Autorin die allgemeine politische und gesellschaftliche Entwicklung der Jahre, über die sie schreibt, komplett aus. Und das ist für die Zeit nach 1919, als Einstein durch die Sonnenfinsternis- Beobachtungen der Royal Society auf einen Schlag weltberühmt wurde, ein schweres Manko. Viele Zeitgenossen stießen sich nicht nur an der Relativitätstheorie, sondern auch daran, dass ihr Schöpfer Jude war und obendrein politisch links stand. So kulminierten immer mehr Attacken jener Jahre in dem Vorwurf, Einstein werde von linken und liberalen Medien hofiert und betreibe unlautere "Reklame" für eine die Gesellschaft gefährdende relativistische Weltanschauung.
Hier stellten Einsteins Kritiker implizit – einzelne auch explizit – Querbezügen zu Texten wie den berüchtigten "Protokollen der Weisen von Zion" her, jener gefälschten antijüdischen Propagandaschrift, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg in mehreren Varianten hohe Auflagen erzielte und auch von Zeitungen abgedruckt wurde. Vor diesem Hintergrund wurde der Physiker sogar als Protagonist einer "jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung" an den Pranger gestellt.
Die Physik geriet damit zu einem wichtigen Schauplatz der allgemeinen ideologischen Grabenkämpfe in der politisch instabilen ersten deutschen Republik. Einstein selbst arrivierte in den 1920er Jahren zu einem Lieblingsfeind von Ultrakonservativen, Völkischen und Nationalsozialisten.
Auch wenn von der "öffentlichen Kontroverse um die Relativitätstheorie in den 1920er Jahren" (Untertitel) damit ein entscheidender Teil fehlt: Die umsichtige Analyse der von "Welträtsellösern" und einzelnen Fachkollegen gegen Einstein geführten Kampagnen rundet unser Bild von den Hintergründen der Anti-Einstein-Debatten jener Zeit ab.
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