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Entwicklungsbiologie und Reproduktionsbiologie von Mensch und Tieren

Die Entwicklungsbiologie ist im vergangenen Jahrzehnt zu einem der zentralen Bereiche der modernen Biologie geworden. Moderne Entwicklungsbiologie integriert Erkenntnisse der Zellbiologie, Biochemie und Molekularbiologie und führt sie an klassische Fragestellungen der Zoologie und Botanik wie auch der Evolutionsbiologie heran. In praktisch keiner Ausgabe von Nature oder Science fehlen Beiträge mit neuen Einsichten in die Entwicklungsbiologie von Mensch, Tier und Pflanze. Ein derart zentrales Forschungsgebiet muss jedem Studierenden der Biologie möglichst früh zugänglich gemacht werden.

Nun gibt es bereits eine ganze Reihe von Lehrbüchern zu diesem Thema. Einige davon sind internationale Standardwerke von höchstem Niveau. Ist da noch Platz für ein vornehmlich auf den deutschsprachigen Studenten und interessierten Nicht-Fachmann ausgerichtetes Lehrbuch?

Die dritte Auflage des Lehrbuches "Entwicklungsbiologie und Reproduktionsbiologie von Mensch und Tier" von Werner Müller und Monika Hassel erhebt nicht den Anspruch, mit einem der existierenden umfassenden Nachschlagewerke in Konkurrenz treten zu wollen. Ziel des Buches ist es vielmehr, "eine verständliche Einführung in das Gebiet" zu geben. Das ist gelungen. Auf über 600 Seiten führen Müller und Hassel in erfrischend einfachen Worten den Leser Kapitel für Kapitel näher an die Beantwortung der eingangs gestellten Frage: "Wie kann ein Forscher sich zeitlebens mit einer kleinen Fliege beschäftigen und dafür auch noch den Nobelpreis für Medizin bekommen?"

Nach einer Einführung in die Entwicklung von Modellorganismen, vom Schleimpilz zur Hydra, von der Fliege zum Wurm, Frosch und Fisch, wird die Embryonalentwicklung von Maus und Mensch ausführlich dargestellt. "Die Entwicklung einer Maus ist seltsam und nicht leicht zu verstehen" heißt so viel wie: Aufgepasst, jetzt wird es kompliziert, aber auch spannend, da die Maus als Stellvertreter des Menschen vorgestellt wird.

Nach einem kurzen Blick in die Evolution von Entwicklungsprozessen bei Wirbellosen und Wirbeltieren erfährt der Leser die Grundlagen der Bildung der Keimzellen (Gametogenese) und der Befruchtung. Hier sucht man allerdings zunächst vergeblich nach ein paar Worten zu Festlegung von Geschlecht und Sexualentwicklung, findet das dann aber in einem eigenen Kapitel am Ende des Buches. Neben den frühen Differenzierungsereignissen wird den Stammzellen ein eigener größerer Abschnitt gewidmet und darin nicht nur beschrieben, was Stammzellen sind und was sie können, sondern auch auf die aktuelle Diskussion zum Thema "therapeutisches Klonen" eingegangen.

Programmierter Zelltod und Krebsentstehung werden ebenso angesprochen wie Zellkommunikation und die Regenerationsfähigkeit von Wirbellosen und Wirbeltieren. Einen breiten Raum nimmt die Darstellung der Entwicklung des Nervensystems ein. Und so kontemplativ wie das Buch mit Überlegungen zu den "Wesenszügen des Lebendigen" begonnen hat, so endet es auch mit: "Unsterblichkeit oder Altern und Tod: Was will die Natur?"

Das Buch ist übersichtlich gegliedert. Neben dem fortlaufenden Text geben so genannte "Boxen" Auskunft zu Details, die für das Grundverständnis des jeweiligen Kapitels nicht unbedingt notwendig, für den weiteren Einstieg in das Gebiet aber interessant sind. Komplexe Zusammenhänge werden in selbst angefertigten Zeichnungen schematisch dargestellt. Sie sind immer dann besonders gelungen, wenn sie mechanistische Vorgänge während der Entwicklung verdeutlichen. Kommt es zur Darstellung von molekularbiologischen Originaldaten, lassen die zweifarbigen Zeichnungen allerdings kaum ein Gefühl dafür aufkommen, auf welche tatsächlichen Beobachtungen sich die Interpretationen denn stützen.

Der umfangreiche Anhang enthält nicht nur ausführliche Literaturhinweise zu den jeweiligen Kapiteln, sondern auch potenziell interessante Internetseiten und eine Zusammenfassung wichtiger Fachzeitschriften. Ein Glossar sowie ein Sach- und Namensverzeichnis ergänzen diese handfeste Einführung in die Entwicklungsbiologie.

Ein Schicksal, dass das vorliegende Buch natürlich mit allen Lehrbüchern teilt, ist die leidige Erfahrung, dass so manches Kapitel bereits als maßlos veraltet erscheint, sobald es gedruckt ist. Erkenntnisse der vergangenen beiden Jahre haben die Entstehung der Links-Rechts-Asymmetrien beim Wirbeltier weitgehend aufgeklärt und gezeigt, dass eine Nodal-verwandte Genkaskade (und insbesondere die "Pitx-Gene") die ancestrale Maschinerie für die Regulation der Körperasymmetrien bilden.

Im vorliegenden Lehrbuch, das den Wissensstand von 2001 widerspiegelt, winden sich ganze zweieinhalb Seiten um noch unklare Vorergebnisse. Bei einem so vorwärts stürmenden Gebiet wie der Entwicklungsbiologie heißt es für den Studierenden also auch weiterhin, das Lehrbuch mit der Lektüre von aktuellen Übersichtsartikeln zu ergänzen.

Trotz dieser kleinen Mängel ist "Entwicklungsbiologie" ein gelungenes Lehrbuch und sein Geld wert. Es ist nicht nur allen Lernenden und Lehrenden, die verstehen wollen, wie man sich zeitlebens mit einer kleinen Fliege beschäftigen und dafür auch noch den Nobelpreis für Medizin bekommen kann, nachhaltig zu empfehlen.
  • Quellen
BIOSpektrum 4/2004

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