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Die Kleinen ganz groß

Das über sechshundert Seiten starke Lehrbuch bietet einen Überblick über das gesammelte Wissen zur biopsychosozialen Entwicklung des Menschen. Hierzu fasst es Erkenntnisse aus der Genetik, Neurobiologie, Neuropsychologie, Kognitions- und Emotionsforschung sowie aus der Sozialisationsforschung zusammen. Dennoch präsentiert sich das Werk wie aus einem Guss.

Denn wie ein roter Faden zieht sich durch das Buch die Ansicht, dass die menschliche Entwicklung auch als Aufgabe zu verstehen ist. Die Autoren beschreiben, wie man hierbei Schäden vorbeugen kann, und machen mit den modernsten Ansätzen der Entwicklungsförderung vertraut – nach dem Motto: "Wer kann was in welchem Alter?" Manche Leser werden allerdings bedauern, nicht noch mehr zum Thema Lernen vorzufinden, etwa entwicklungsabhängige Lernstrategien oder Ergebnisse der Neurodidaktik.

Zu kurz kommt ferner die kindliche Sexualentwicklung. Das verwundert umso mehr, als diese inzwischen als wichtiger Bestandteil der Persönlichkeitsentwicklung gilt. Immerhin besprechen einige Kapitel die Herausbildung von Geschlechterrollen sowie die Bevorzugung gleichgeschlechtlicher Spielkameraden.

Besonders lesenswert ist die historische Abhandlung über die einzelnen Stationen auf dem Weg zum heutigen, differenzierten Entwicklungsbegriff. Daneben räumt das Werk mit alten Vorurteilen auf, beispielsweise zur Anlage-Umwelt-Kontroverse. Die Autoren betonen, wie wichtig Umwelterfahrungen für die Ausdifferenzierung des Gehirns und die Realisierung genetischer Potenziale ist. Auch die Aussagekraft von Zwillings- und Adoptionsstudien stutzen sie auf das heute vertretbare Maß zurück – noch immer ist meist unklar, welche Einflüsse des Erbguts und der Umgebung jeweils im Einzelnen wirksam sind.

An vielen Stellen zeigt sich die hohe Aktualität der Texte. Die Autoren beschreiben derzeitige Kontroversen, zum Beispiel über die Gründe für altruistisches Verhalten aus Sicht der Soziobiologie oder -psychologie. Dabei fehlen die jeweiligen Argumente ebenso wenig wie bislang unbeantwortete Fragen, sodass der Leser zum eigenen Nachdenken angeregt wird.

Etwa zum Thema Bindungsforschung. Diese kann nämlich den Aufbau von Beziehungen bei Kindern und Jugendlichen keineswegs vollständig erklären. Lothar Krappmann vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung fragt daher auch mit Recht, ob sich bei Freundschaften und Peergroups wirklich nur widerspiegelt, wie gut sich die Betroffenen im frühen Kindesalter an Bezugspersonen binden konnten. Vielleicht suchen manche doch bewusst zusätzliche Sozialisationserfahrungen, die von denen mit den Eltern abweichen?

Etwas dürftig fällt die Darstellung der Verhaltensbiologie des Kindesalters aus. So werden Ethologen wohl mit ungläubigem Staunen feststellen, dass der Begriff Prägung nur im genetischen Sinne vorkommt – als Mechanismus, über den Gene auf den Verlauf der Entwicklung und die Entstehung von Krankheiten Einfluss nehmen.

Abgerundet wird das Lehrbuch durch sorgfältige Abbildungsverweise und ein umfassendes Glossar, das sich auch als kompaktes Lexikon der Entwicklungswissenschaften eignet. Ein weiterer Pluspunkt ist die sehr authentisch wirkende Bebilderung. Fazit: Ein höchst gelungener Beitrag zu einem wirklich neuen Verständnis der menschlichen Entwicklung.
  • Quellen
Gehirn & Geist 2/2004

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