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Jenseits der Gene

Im Jahr 2009 hatten Biologen einen doppelten Grund zu feiern. Schließlich erblickte vor 200 Jahren Charles Darwin, der Vater der Evolutionstheorie, das Licht der Welt, der vor 150 Jahren seine "Entstehung der Arten" veröffentlichte. Im "Darwinjahr" ging jedoch ein Jubiläum fast vollkommen unter: 1809, also ebenfalls vor genau 200 Jahren, erschien das dreibändige Hauptwerk "Philosophie zoologique" des französischen Zoologen und Botanikers Jean-Baptiste Antoine Pierre de Monet Lamarck (1744-1829).

Lamarck? War das nicht der mit den Giraffenhälsen? Richtig! Zwar nimmt das berühmt-berüchtigte Giraffenbeispiel, nachdem die Tiere ihren durch stetes Recken nach oben verlängerten Hals an ihre Nachkommen weitergeben, nur einen Bruchteil seines Gedankengebäudes ein, doch es symbolisiert – zum "Lamarckismus" verkürzt – einen Irrweg der Wissenschaft. Vergessen wird dabei, dass die "Vererbung erworbener Eigenschaften" lange als anerkannter Stand der Wissenschaft galt und dass Lamarck mit seinen Ideen zum Artenwandel als bedeutender Wegbereiter für Darwin fungierte.

In den letzten Jahren offenbarte sich nun, dass der französische Adlige gar nicht so vollkommen daneben lag. Denn die alte Streitfrage, ob die Gene oder die Umwelt unser Schicksal stärker prägen, scheint sich inzwischen in Wohlgefallen aufzulösen: Die Genetik allein hat längst nicht das letzte Wort. Wichtig ist vielmehr, wann welche Gene abgelesen werden – und darüber entscheidet auch die Umwelt.

Dem jungen Forschungszweig der "Epigenetik" (griechisch epi = auf, dazu, nach) widmet sich Bernhard Kegels gleichnamiges Sachbuch. Wir erfahren von merkwürdigen Fällen schwedischer Dorfbewohner, deren Lebenserwartung davon abhing, wie viel ihre Großväter während ihrer Kindheit zu essen bekamen, oder von "Monster"-Blüten, die – obwohl genetisch vollkommen identisch – komplett anders aussehen als ihre Artgenossen. All dies Beispiele epigenetischer Veränderungen, die – fast im Sinne Larmarcks – von der Umwelt bestimmt und an ihre Nachkommen vererbt werden können.

Kegel – seines Zeichens Chemiker, Biologe und Romanschriftsteller – versteht es, die komplexen Zusammenhänge der Epigenetik durchaus anschaulich zu schildern. Seine Erklärungen sind derart detailliert, dass er mitunter übers Ziel hinausschießt und die Verständlichkeit auch schon mal auf der Strecke bleibt. Allerdings gelingt es ihm immer wieder, den Leser neu einzufangen und zu fesseln.

Nach dem großen Wirbel, den die komplette Entzifferung des menschlichen Genoms verursachte, hat sich ein wenig Ernüchterung breit gemacht. Obwohl wir die DNA, das "Buch des Lebens", jetzt Buchstabe für Buchstabe lesen können, verstehen wir immer noch nicht, warum tödliche Krankheiten wie Krebs entstehen. Vermutlich liegt auch hier in der Epigenetik der Schlüssel. Kegel warnt jedoch zu Recht vor einem "Epigenetik-Hype". Auch dieser Forschungszweig wird die Heilserwartungen, die zunehmend in ihn gesetzt werden, nicht vollständig erfüllen können. Wissenschaft bleibt ein mühsames Geschäft, das nur in kleinsten Schritten vorankommt. Und mitunter bekommt ein Wissenschaftler erst nach 200 Jahren Recht.

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