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Darwin durch die philosophische Brille betrachtet

Dieses Buch führt zwar die Evolution im Titel, aber es berichtet nicht über Stammbäume und Fossilien. Vielmehr geht der Düsseldorfer Philosoph Gerhard Schurz den gedanklichen Hintergründen der Evolutionstheorie nach.

Muss ein Biologe sich überhaupt mit solch philosophischen Fragen befassen? Aber ja! Und sei es nur, um für die Diskussion mit Kreationisten gewappnet zu sein. Mutationen sind zufällig, die Selektion dagegen gibt Richtungen vor – so weit das Standardwissen. Aber was entgegnen Sie dem Kreationisten, der behauptet, diese Richtungsvorgaben seien ein teleologisches Prinzip in der Natur?

Darwins Evolutionstheorie erklärt eben nicht nur die Entstehung der Arten, sondern stellt auch einen Paradigmenwechsel dar, der weit ins Weltanschauliche hineinwirkt. Mit den drei Eckpfeilern Vermehrung (Reduplikation), Veränderung (Mutation) und Selektion vollzieht sie eine Abkehr von bestimmten Denkstrukturen, welche die Philosophie und Naturwissenschaft seit der Antike geleitet haben. Warum hatten die griechischen Naturphilosophen noch nicht diese Vorstellung von der Selbstorganisation komplexer Systeme? Warum ist Derartiges selbst den neuzeitlichen Rationalisten wie Descartes und Leibniz nicht in den Sinn gekommen? Warum hat die scheinbar unausweichliche Vorstellung von einem Schöpfer und Planer unser Denken so lange beherrscht? Im Gegensatz dazu hatten andere große Errungenschaften der Neuzeit wie die Abkehr vom geozentrischen Weltbild, die Atomtheorie oder die Relativität von Raum und Zeit antike Vorläufer.

Der Placeboeffekt des Glaubens

In den beiden ersten großen Teilen erarbeitet Schurz biologische Fakten sowie die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Evolutionstheorie. Teil III behandelt die Parallelen zwischen der biologischen und der kulturellen Evolution, für die der britische Zoologe Richard Dawkins 1976 in seinem Buch "Das egoistische Gen" den Begriff "Mem" in Analogie zu "Gen" geprägt hat. Teil IV zeigt, dass zahlreiche evolutionstheoretische Erkenntnisse den mathematischen, computergestützten Modellen der Populationsdynamik zu verdanken sind. Durch rein intuitive Überlegungen hätten sie sich nicht eingestellt.

Der fünfte und letzte Teil geht auf Probleme ein, die uns im Alltagsleben berühren: die Evolution von Moral und Religion. Als wissenschaftliche Theorie, die nur gelten lässt, was man überprüfen kann, ist die Evolutionstheorie der geborene Gegner jeder Religion und hat gute Argumente auf ihrer Seite. Die Weltbilder insbesondere der christlichen Religion – Schöpfungsgeschichte, Geozentrismus, Wunderglaube, Seelenlehre – sind wissenschaftlich immer wieder widerlegt, ihre Werte und Handlungen – Missionsbefehl, Keuschheitsgebot, Minderwertigkeit der Frau, Hexenverbrennungen, Teufelsaustreibungen – als inhuman erkannt worden. Nur hat darunter zwar die Autorität der kodifizierten religiösen Weltbilder gelitten; aber das religiöse Bedürfnis der Menschen ist selbst im gegenwärtigen Hightech-Zeitalter ungebrochen.

Die Hartnäckigkeit, mit der sich religiöse Überzeugungen in allen Kulturen der Welt halten, deutet auf eine genetische Grundlage hin. Wäre Religion nur ein Mem im Sinn von Dawkins, so hätte sie in gewissen Kulturen auch aussterben müssen und dort nicht spontan wieder entstehen dürfen. Dies ist jedoch nicht der Fall.

Die genetische Verankerung erfordert einen Selektionsvorteil, und diesen sieht Schurz in einem "verallgemeinerten Placeboeffekt des Glaubens": Wenn ein Mensch zum Beispiel glaubt, dass ihn bald eine geliebte Person besuchen wird, so macht ihn dieser Glaube froh und glücklich, unabhängig davon, ob diese Person dann auch wirklich kommt. Bereits durch diesen Seelenzustand kommt er besser durchs Leben und hat tendenziell mehr Nachkommen als sein weniger leichtgläubiger Zeitgenosse – so muss man Schurzens Gedankengang ergänzen.

Insbesondere seien die evolutionär erfolgreichsten Erkenntnisformen nicht notwendig diejenigen, welche die Realität am getreuesten wiedergeben. Damit wendet sich Schurz auch gegen die evolutionäre Erkenntnistheorie, die einen systematischen Zusammenhang zwischen Wahrheit und evolutionärem Erfolg behauptet.

Über die Religionen hinaus, so Schurz, sei das darwinistische Weltbild ein Affront gegen jede Weltanschauung, die eine der Natur immanente Orientierung zur Höherentwicklung postuliert. Das betrifft vor allem den dialektischen Idealismus von Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel sowie den dialektischen Materialismus von Karl Marx und Friedrich Engels. Damit scheint die letzte Möglichkeit gefallen zu sein, aus wissenschaftlichen Tatsachenerkenntnissen eine Sinn stiftende Weltanschauung herauszulesen.

Schließlich sei die Evolutionstheorie mit dem modernen Anthropozentrismus unvereinbar, wonach der Mensch als Gipfel der Evolution beliebig über die Natur regieren oder sich völlig von Naturzwängen befreien könne. Das stellt auch das handlungszentrierte Machbarkeitsdenken der politischen Linken insgesamt in Frage. Dieses deutet die kulturelle Evolution als die Geschichte von machtvollen Herrschern oder Gruppen und schreibt die Übel dieser Welt dem planmäßigen Wirken irgendwelcher Bösewichte oder Ausbeuter zu, die man nur politisch beseitigen müsste, um die Probleme zu lösen.

Allgemein hat das anthropozentrische Machbarkeitsparadigma die Eigenart, die älteren Generationen regelmäßig ziemlich dumm aussehen zu lassen, weshalb es sich bei der jungen Generation besonderer Beliebtheit erfreut, nach dem Argumentationsmuster: Hätten nur genügend Menschen sich rechtzeitig von der richtigen Gesinnung leiten lassen, dann wären die aktuellen Fortschritte schon weit früher erreicht worden. Aber Evolutionsprozesse lassen sich nicht durch bloßen Gesinnungswandel ändern, und selbst wenn sie es tun, dann meist nicht so wie beabsichtigt, wie sich bei Umwälzungen von der Französischen Revolution bis hin zur Studentenbewegung der 1960er Jahre gezeigt hat.

Schurz setzt sich auch mit dem Sinn der Suche nach den "Letzttatsachen" auseinander: Was war vor dem Urknall? Woher kommt es, dass die Naturkonstanten so fein aufeinander abgestimmt sind? Aber dazu kann die Evolutionstheorie nichts beitragen. Und irgendwelche "Letzterklärungen", die beispielsweise den unerklärten Urknall auf Ereignisse davor zurückführen, schaffen nichts weiter als einen unendlichen Regress und sind insofern nicht besser und nicht schlechter als die Religionen, denen Dawkins genau das zum Vorwurf macht.

Das am meisten biologisch orientierte Kapitel I/2 enthält Schwächen. Schurz stellt die Beispiele für die Evolution der Organismen zu zusammenhanglos und ohne hinreichenden Bezug zum Gesamtanliegen seines Werks dar. Außerdem klammert er sich zu sehr an eine einzige Quelle (nämlich "Evolution" von Mark Ridley).

Diese Einzelkritik soll den Gesamteindruck nicht schmälern: Wer nachdenken will und sich nur dem "zwanglosen Zwang" des besseren Arguments beugt, der wird von dem Buch begeistert sein.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 8/2011

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