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Die Evolution der Evolution

"Evolution" ist ein sehr fassettenreicher Begriff, vor allem wenn man ihn nicht auf die Entstehung der biologischen Arten beschränkt. Die Akademie der Wissenschaften in Göttingen hat zusammen mit der Universität im Wintersemester 2007/ 2008 eine Ringvorlesung mit diesem Generalthema veranstaltet. Im vorliegenden Buch sind die Beiträge von 17 Wissenschaftlern aller Couleur versammelt, darunter Prominente wie Manfred Eigen, Bert Hölldobler und Friedemann Schrenk. Wie der kreationistisch anmutende Untertitel "Zufall und Zwangsläufigkeit der Schöpfung" schon andeutet, versuchen etliche Autoren auch Brücken zu den traditionellen – und durch die Evolutionstheorie heftig angefochtenen – religiösen Vorstellungen zu bauen.

Nur mühsam lässt sich die Themenvielfalt in drei große Gruppen zusammenfassen: die Evolution der Evolutionsforschung selbst, kontroverse Evolutionstheorien und die Auseinandersetzung mit den molekularen Hintergründen genetischer Vielfalt. Drei Beiträge seien exemplarisch herausgegriffen. Rainer Willmann, Professor für Zoologie in Göttingen, vermittelt in seinem Aufsatz eindrücklich, auf welche Weise Darwins Evolutionstheorie nach 1859 unterschiedliche Weltanschauungen ins Wanken gebracht hat. "Schönheit liegt im Auge des Betrachters" und nicht im schönen Gegenstand selbst, sagt das Sprichwort – und wird von Darwins Theorie der sexuellen Selektion relativiert. In ihrer Ausprägung als sexuelle Attraktivität ist nämlich Schönheit sehr wohl "etwas Objektives", nämlich "ein Satz von Eigenschaften, der innerhalb der ganzen Art als attraktiv, als schön gilt".

Eine hohe, durch sorgfältige Recherche erreichte Informationsdichte erwartet den Leser insbesondere im zweiten Teil dieses Aufsatzes, in dem Willmann detailliert den historischen Weg bis hin zur darwinschen Evolutionstheorie darstellt. Sein Szenario umfasst chronologisch Darwins geistige Vorläufer, Ideengeber und Korrespondenzpartner einschließlich Originalzitaten. Der Autor bekennt sich klar zur Evolutionstheorie als einer der wenigen, die "als wahr akzeptiert "werden – und vermeidet mit dieser zurückhaltenden Formulierung jeden Anschein eines unzulässigen Anspruchs auf absolute Wahrheit.

Willmann geht auch auf den Missbrauch der Evolutionstheorie in Form von Sozialdarwinismus, Rassismus und den Vorstellungen von der Minderwertigkeit der Frau ein – und schließt mit dem unerwarteten, aber seine Gedanken logisch abrundenden Fazit, dass wir Menschen die Einzigen sind, die es in der Hand haben, die biologische Vielfalt zu gefährden oder zu erhalten.

Einem völlig anderen Gebiet widmet sich der Münchener Biochemiker Günter Wächtershäuser, im Hauptberuf Patentanwalt. Er stellt seine "Eisen-Schwefel-Theorie" zur Entstehung des Lebens vor, einen Gegenentwurf zu der bislang verbreiteten Vorstellung, nach der durch Anreicherung organischer Moleküle in einer "Ursuppe" ein hochmolekularer, zur Selbstreplikation fähiger "Ur- Organismus" entstanden sei. Wächtershäuser postuliert einen "Pionier-Organismus", ein wesentlich einfacher gebautes Verbundsystem aus einem "anorganischen Unterbau" mit aufgelagertem "organischem Überbau". Demnach wäre die frühe biochemische Evolution vornehmlich auf der Basis von anorganischen Katalysatoren abgelaufen. Es ist die Auseinandersetzung mit einer solchen Alternativerklärung, die dieses Kapitel so reizvoll macht.

Eher traditionell beginnt Werner Arbers Aufsatz über die molekularen Ursachen von Evolution, in dessen Fokus genetische Vielfalt und Biodiversität stehen. Der Autor, emeritierter Professor für molekulare Mikrobiologie in Basel, beginnt mit lehrbuchmäßig aufbereitetem Hintergrund- und Basiswissen zu den Evolutionsfaktoren Mutation, Selektion und Isolation. Bei diesen "Eckpfeilern" findet zunächst der eigentliche "Motor der Evolution", die Rekombination, noch keine Berücksichtigung, wird aber umso ausführlicher in den Folgekapiteln analysiert, die sich vornehmlich mit Erkenntnissen aus der mikrobiellen Genetik befasst.

Im Schlusskapitel skizziert Arber "Wege, die zu einem Einvernehmen über unser Verständnis der Entwicklung der Vielfalt des Lebens [...] führen können", und zwar zwischen der Wissenschaft und religiösen Glaubensrichtungen sowie traditionellen Weltanschauungen, wobei er die Kernfrage nach dem Ursprung des Lebens ausdrücklich ausklammert. Das ist alles ohnehin recht inhaltsschwer; obendrein macht der Autor durch eine umständliche Schreibweise mit einem Übermaß an Füllwörtern das Lesen zusätzlich mühsam. Seine Wertschätzung für die theologischen Schöpfungsmythen fasst er in die treffenden Worte: "Kurz gesagt, die permanente Schöpfung mittels biologischer Evolution ist Gott ein wichtiges Anliegen, er liebt sie als Quelle der biologischen Vielfalt."

In fast allen Aufsätzen erleichtern Grafiken und Fotos das Verständnis und erfüllen damit ein dringendes Bedürfnis. Die vorliegende Textsammlung ist nämlich keine leichte Lektüre "zur geistigen Entspannung zwischendurch". Vielmehr verdient jeder Beitrag ungeteilte Aufmerksamkeit und Konzentration.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 8/2010

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