Animierte Welt
Owen Suskind ist 23 Jahre alt und kurz davor, seinen Abschluss an einer Förderschule zu machen. Er lacht viel, leitet einen Schüler-Filmclub und ist glücklich verliebt in seine Freundin Emily. Bald wird er in eine eigene Wohnung innerhalb einer betreuten Einrichtung ziehen – und Emily in die Wohnung über ihm.
Wer Owen im Film "Life, Animated" auf seinem Weg ins Erwachsenenleben zuschaut – wie er etwa mit seiner Freundin Kekse backt oder vor seinen Mitschülern den nächsten Film im Filmclub ankündigt – kann kaum glauben, welch steinigen Weg der junge Mann bereits hinter sich hat. Zwar entwickelte er sich bis zum Alter von drei Jahren völlig normal. Dann jedoch hörte er ganz plötzlich auf zu sprechen und brabbelte nur noch wie ein Baby. Auch seine motorischen Fähigkeiten ließen nach. »Er verschwand«, beschreibt sein Vater, der Journalist Ron Suskind, diese Zeit. Spezialisten stellten schließlich die Diagnose: Autismus.
Der Dokumentarfilm des Regisseurs Roger Ross Williams beschreibt einfühlsam anhand von alten und neuen Videoaufnahmen sowie Interviews mit der Familie Suskind, wie der dreijährige Owen nach und nach in seine eigene Welt versank. Aber auch, wie die Eltern und Owens großer Bruder es schafften, ihn in ihre Realität zurückzuholen.
Durch die Puppe sprechen
Durch Zufall entdeckte Owens Vater vier Jahre nach der Diagnose, dass sein Sohn auf ihn reagierte, ja, ihm sogar in ganzen Sätzen antwortete, wenn er ihn mit Hilfe einer Disney-Handpuppe ansprach. Bald stellte sich heraus, dass Owens Sprachfähigkeiten viel weiter entwickelt waren, als gedacht: Er konnte nicht nur ganze Sätze bilden, sondern kannte seine heiß geliebten Disney-Filme sogar in und auswendig.
Von da an sprach die Familie mit Owen in Disney-Dialogen und erkämpfte sich mit Hilfe der Animationsfilme einen einzigartigen Zugang zu seiner Welt. Mit Erfolg: Nach und nach fand der Junge seine Sprache wieder, ließ häufiger Augenkontakt zu und konnte sogar Beziehungen zu fremden Menschen aufbauen. Das fällt Autisten in der Regel schwer.
Der Umgang der Familie Suskind mit Owens Krankheit ist sehr individuell. Und doch lässt sich ihr Ansatz auf andere Fälle übertragen. Denn auch an deutschen Autismus-Instituten besteht der erste Schritt der Behandlung darin, Zugang zu den jungen Patienten zu bekommen, indem deren Aufmerksamkeit erregt wird. Meist nutzen die Therapeuten dafür ein Lieblingsspielzeug – ähnlich wie Owens Vater die Handpuppe. Auf dieser Basis können dann andere Funktionen wie etwa die Sprache oder soziale Fähigkeiten trainiert werden.
Filme als Ankerpunkte
Im Film bleibt unklar, welche Rolle bestimmte Therapien für die Fortschritte des Jungen gespielt haben. Der Fokus des Regisseurs liegt auf der besonderen Wirkung der Zeichentrickfilme auf Owens Entwicklung. Denn diese halfen ihm nicht nur, wieder zu sprechen, sondern auch dabei, die Welt um ihn herum und seine eigenen Gefühle besser zu verstehen. Die Disney-Geschichten haben stets eine einfache Moral, und die Figuren drücken ihre Emotionen übertrieben aus – gut für Autisten, die von komplexen Reizen oft überfordert sind. In den Filmen fand Owen Halt und Trost: Als er etwa in der Schule gemobbt wurde, fühlte er sich wie Quasimodo aus "Der Glöckner von Notre-Dame". Als sein Bruder traurig war, weil seine Geburtstagsfeier dem Ende zuging, sah dieser für Owen so aus wie Mogli aus dem "Dschungelbuch" oder Peter Pan, die ebenfalls nicht erwachsen werden wollten. Und als seine Freundin sich von ihm trennte, hatte er Liebeskummer wie "Arielle, die Meerjungfrau".
Für anscheinend jede Lebenssituation in der Kindheit und Jugend hielten die Disney-Filme eine passende Szene bereit. Der Regisseur verdeutlicht dies, indem er gekonnt zwischen Videoaufnahmen von Owen und seiner Familie und Ausschnitten aus den Zeichentrickfilmen hin- und herspringt. Zudem animierte er eine Geschichte, die sich Owen als kleiner Junge ausgedacht hat. Sie macht deutlich, wie sich der autistische Junge in der Welt wahrnimmt, und liefert tiefe Einblicke in seine Gedanken und Empfindungen. Doch das echte Leben geht über die Disney-Realität hinaus, das merkt der Zuschauer spätestens, als Owens Bruder mit ihm über Sexualität reden möchte: Owen versteht ihn nicht, weil ihm keine passenden Analogien aus Disney-Filmen zur Verfügung stehen.
Trotz aller Fortschritte wird Owen in seinem Leben noch viele Hürden überwinden müssen. Gut, dass ihm dabei nicht nur Herkules, Dumbo und Simba, sondern auch seine Eltern und sein Bruder zur Seite stehen werden.
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