Entscheidungen über Leben und Tod. Reinhard Merkels Untersuchungen zum Problem der Früheuthanasie
Reinhard Merkel befasst sich in seiner strafrechtlichen Habilitationsschrift mit den verdrängten Problemen der so genannten Früheuthanasie. Das Sterbenlassen schwer kranker Neugeborener wird insgeheim auch von Ärzten in Deutschland praktiziert, aber weder in der Strafrechtswissenschaft, noch in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit oder in den gesetzgebenden Organen diskutiert. Die einführend dargestellten typischen klinischen Erscheinungsformen schwerstgeschädigter Neugeborener zeigen die moralischen und rechtlichen Probleme deutlich auf: Da diese Neugeborenen ohne weit reichende medizinische Eingriffe keine Möglichkeit zum Überleben hätten, aber auch mit medizinischer Hilfe vielfaches Leid ertragen müssen und oft dennoch ohne langfristige Überlebenschance bleiben, kann ärztliche Medizin, die nur auf Lebenserhaltung ausgerichtet ist, den Betroffenen keine Hilfe sein. Die bisherigen strafrechtlichen Konstruktionen zur indirekten und passiven Euthanasie sind jedoch für die Lösung dieses Dilemmas unzureichend. Das wird im zweiten und dritten Kapitel des Buches ausführlich dargelegt. Versucht werden muss daher eine kohärente und rational nachvollziehbare Lösung dieser schwierigen Entscheidungsfragen. Dabei kann dem Autor nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass er auf der Grundlage ethischer Fundamente argumentiert, denen ein utilitaristischer Ansatz zu Grunde liegt. Dadurch wird zumindest der Bezug auf „metaphysische“ und religiöse Elemente vermieden, die nur diejenigen überzeugen können, die von ihrem Bestehen von vornherein ausgehen. Moralisch geboten ist nach Merkels Ansicht bei jeder dieser Sterbehilfeentscheidungen eine Abwägung der Überlebens- und Sterbensinteressen des Neugeborenen selbst. Wie diese moralischen Überlegungen in die deutsche Strafrechtsordnung einfließen können, obwohl damit das Primat der Unantastbarkeit des Lebens aufgehoben wird, wird im fünften und letzten Kapitel der Arbeit dargelegt. Hier diskutiert Merkel auch die Elemente, die in die Interessenabwägung einfließen können — wie die Behandlungsbelastungen für das Neugeborene, seine soziale Prognose und zukünftig für ihn entstehendes Leid. Sich diesen schwierigen Fragen, vor denen Ärzte und Elter leider noch weit häufiger als man befürchtet stehen, angenommen zu haben und die Unzulänglichkeiten der bisherigen strafrechtlichen Bewertung aufzuzeigen ist der große Verdienst des Autors. Dem Ergebnis seiner Überlegungen, keine Lebenserhaltung um jeden Preis zu fordern, kann jeder zustimmen, der als wichtigste Aufgabe des Arztes nicht die Lebenserhaltung, sondern die bestmögliche Hilfe für die Patienten erkennt. Da nur ein überwiegendes Sterbensinteresse des Kindes selbst eine Euthanasieentscheidung rechtfertigen kann, ist jedoch die entscheidende Schwierigkeit, die Kriterien zu benennen, nach denen — allein unter dem Primat des Kindeswohls! — ein solches überwiegendes Sterbensinteresse des Kindes angenommen werden darf.
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