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Von einem, der auszog, die Welt zu retten

Der Kolumbianer Paolo Lugari hatte Anfang der 1970er Jahre eine Vision: Er wollte am unwirtlichsten, unfruchtbarsten Ort der Erde ein Dorf gründen, in dem es den Menschen an nichts fehlte. Wenn das gelänge, so Lugari, würde es überall möglich sein, und der explosionsartig anwachsenden Menschheit würde der Platz auf der Erde nicht knapp werden.

Knapp 30 Jahre später reiste der bekannte Journalist Alan Weisman, Autor des internationalen Bestsellers "Die Welt ohne uns", selbst in das kleine kolumbianische Dorf Gaviotas und schrieb daraufhin das Buch, das uns dessen unglaubliche Geschichte erzählt.

Östlich der kolumbianischen Anden erstreckt sich eine ausgedörrte Graslandschaft, die etwa die Hälfte der Fläche Deutschlands einnimmt: "los llanos" . Dürreperioden wechseln sich mit monatelangem Regen ab, der den nährstoffarmen Boden in eine Schlammwüste verwandelt. Buschfeuer brennen die Vegetation fast schneller nieder, als sie nachwachsen kann. Lange Zeit waren deshalb die nomadischen Guahibo-Indianer die einzigen Menschen, die in dieser Gegend lebten. In jüngerer Zeit flohen etliche Menschen vor dem Drogenkrieg in die Llanos, konnten dort aber – bei der Alternative Wohnen am Fluss mit unzähligen Malariamücken oder kilometerweiter Weg zum Trinkwasser – nie recht heimisch werden.

Anfangs glaubte daher außer Lugari kaum jemand an das Projekt. Aber mit seinen Überzeugungskünsten und guten akademischen Beziehungen lockte Alternati ves leben innerhalb kurzer Zeit viele wissensdurstige Studenten in das kleine Dorf im Niemandsland. Sie erforschten die Natur, die einheimische Tier- und Pflanzenwelt und fanden kreative Möglichkeiten, sich der Umgebung anzupassen und sie für sich nutzbar zu machen. Von den Guahibo lernten sie, wie man die eingeweichten Blätter der Buritipalme zu Netzen und Hängematten verarbeitet und aus dem Palmöl ein dem Olivenöl gleichwertiges Speisefett herstellt.

Der Anspruch der Wissenschaftler war es, nachhaltig zu wirtschaften und zu bauen. Zumindest langfristig wollten sie ohne Plastik und andere, mühsam herbeizuschaffende Rohstoffe auskommen (wer nach Gaviotas will, muss 16 Stunden durch unwegsames, straßenloses Gelände fahren). So entwickelten die Ingenieure eine Erde-Zement-Mischung, die zum Großteil aus dem Savannenboden bestand. Diese verarbeiteten sie in einer selbstgebauten Presse ohne weitere Bindemittel zu Backsteinen – die Erde war feucht genug, um den Zement zu härten.

Aus demselben Material bauten sie Abwasserrohre, die mühelos das Gewicht mehrerer Lastwagen aushielten: Sie gossen einen Graben mit der Erde- Zement-Mischung aus, gossen Wasser in einen Plastikschlauch, so dass er die Form des späteren Hohlraums annahm, und füllten mit dem selbstgemachten Mörtel auf. Nach einem Tag war das Material ausgehärtet, und die Gavioteros holten den Schlauch wieder heraus. 1976 wurde Gaviotas von den Vereinten Nationen zu einer Modellgemeinde ernannt. Die Wissenschaftler erhielten Fördergelder und ein Reisebudget, um ihre Ergebnisse auf internationalen Konferenzen vorzustellen – und neue Ideen zu sammeln.

Im Lauf der Zeit entwickelte sich Gaviotas zu einer richtigen Gemeinde. Die Leute bauten ein Krankenhaus, Kindergärten, Schulen und eine große Gemeindehalle, in der das ganze Dorf sämtliche Mahlzeiten gemeinsam einnahm. Es klingt wie ein Märchen, wenn man liest, dass ohne jedes Wettbewerbsund Eigentumsdenken alle gemeinsam hart arbeiteten und quasi alles miteinander teilten.

Die Gavioteros entwickelten hocheffiziente Warmwasser-Solaranlagen, die billig und ohne Hightech-Aufwand direkt in den Llanos hergestellt werden konnten. Mit einer einfachen Biogasanlage sammelten sie das Methan aus Kuhmist und leiteten es über Rohre zu den Feuerstellen der Gasherde im Krankenhaus. Sie bauten Kühlschränke und Trinkwasseraufbereitungsanlagen, schlossen Kinderwippen an ein Pumpsystem an, so dass in jeder Schulpause Grundwasser nach oben gepumpt wurde. Sie hatten so viele Ideen, dass sie gar nicht alle realisieren konnten.

Doch nach etwa zwei Jahrzehnten der Förderung bekam Gaviotas Anfang der 1990er Jahre kein Geld mehr. Nun drohte ihre Arbeit zu einem Überlebenskampf zu werden. Trotzdem blieben sie alle, denn Gaviotas war ihre Heimat geworden.

Und sie hatten Glück – ihre jahrelange Forschungsarbeit und ihre Neugierde zahlten sich aus. Jahre zuvor hatten einige Biologen Setzlinge von Karibischen Kiefern in den Llanos eingepflanzt.

amit die Bäume dem Boden genügend Nährstoffe entziehen konnten, hatten sie die Wurzeln mit Mykorrhizapilzen geimpft. Die Pilze vermehrten sich im Lauf der Zeit, weil die Gavioteros weder Insektizide noch künstliche Düngemittel verwendeten, und die Kiefern wuchsen prächtig heran. Damit hatten die Gavioteros es geschafft, das Ödland in eine grüne Oase zu verwandeln. Das lokale Klima wurde ausgeglichener, und der Schatten der Bäume bot vielen Pflanzen und Tieren neuen Lebensraum. Doch wozu konnten sie den Wald nutzen? Bauholz und Zellstoff wären wegen des Transportaufwands auf dem Weltmarkt kaum konkurrenzfähig gewesen.

Genau zur richtigen Zeit stieß Lugari selbst durch einen Zeitungsartikel auf die entscheidende Möglichkeit: In Europa gab es bereits eine Nachfrage nach natürlichem Baumharz zur Verwendung in hochwertigen Farben, Klebstoffen, Kosmetika und Arzneimitteln, das durch Produkte auf Erdölbasis nicht zu ersetzen war. So lernten die Menschen in Gaviotas, hochwertiges Kiefernharz von den Bäumen zu zapfen, ohne ihr Wachstum zu beeinträchtigen. Aus irgendeinem Grund wuchsen die Bäume in den Llanos so rasant, dass die Gavioteros bereits nach acht statt der üblichen 20 Jahre einen immensen Harzertrag hatten. Zudem gewannen sie bei der Aufreinigung des Rohharzes als Nebenprodukt Terpentin, das sie ebenfalls verkaufen konnten.

Die Einwohner Gaviotas hatten es geschafft: Sie konnten sich selbst finanzieren. Lugaris Traum war Realität geworden.

Alan Weisman zerlegt die große Erzählung in viele kleine Geschichten über die verschiedenen Charaktere, die Gaviotas aufbauten und prägten, darüber, wie sie auf ihre kreativen Erfindungen kamen und warum Gaviotas für sie so lebenswert ist. Streckenweise springt der Autor von einer Anekdote zur nächsten und liefert die Pointe oft erst Seiten später nach. Viele technische Beschreibungen sind mangels Skizzen kaum zu verstehen. Und zwischen all dem erzählt er nebenbei noch allerlei aus der Geschichte Kolumbiens, so dass der Leser das Projekt Gaviotas auch in die politischen Zusammenhänge einordnen kann.

Man kann nur staunen über dieses Dorf, das die Welt verbessern möchte, und bekommt Lust, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen. Doch das kann über ein großes Manko nicht hinwegtäuschen: Die Erstausgabe des Buchs erschien bereits 1998, zehn Jahre später eine überarbeitete Neuauflage. Noch einmal vier Jahre sind vergangen, bis nun die erste deutsche Übersetzung vorliegt. Das Vorwort zu dieser Ausgabe gibt kaum aktuelle Informationen, die der Leser sich aber dringend wünscht. So ist das Buch eindeutig veraltet. Die Idee, die hinter Gaviotas steckt, könnte jedoch aktueller nicht sein.

  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 11/2012

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