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Kirche, Burg und Bauernhaus

So fern und doch so nah – vielleicht lässt sich die Faszination, die das europäische Mittelalter heute ausübt, auf diese einfache Formel zurückführen. Einerseits liegt uns jenes Jahrtausend zwischen Antike und Neuzeit so fern, dass wir eine kulturelle Distanz verspüren, andererseits ist es in Form von Burgruinen und Kirchen, Resten alter Stadtmauern und Patrizierhäusern in der Gegenwart präsent.

Matthias Untermann, Professor für Europäische Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg, wollte mit dem vorliegenden Werk vornehmlich Experten wie Studenten ein Nachschlagewerk an die Hand geben. Doch eignet es sich auch für den Laien als Reiseführer durch eine vergangene Zeit, der zum Schmökern anregt.

Schon die 20-seitige Einleitung bietet eine Fülle von Informationen. Am Beispiel des Aachener Doms erläutert der Autor ein Kernproblem seines Fachgebiets. Was den Betrachter "typisch mittelalterlich" anmutet, erweist sich bei genauem Hinsehen als im 19. Jahrhundert überformtes Kunstwerk, das gleichwohl Elemente mittelalterlicher Baukunst bewahrt hat.

Untermann gibt auch gleich einen ersten Abriss der Formgeschichte, die mehr kennt als nur die beiden großen Kategorien Romanik und Gotik. Die Meisterschaft des Bauforschers erweise sich nicht zuletzt in der Kunst, ältere Bauzustände am heute noch Sichtbaren abzulesen, Wiederverwendetes in seinen ursprünglichen Zusammenhang zu stellen, verfüllte Fundamente mit den Mitteln der Archäologie nachzuweisen und auszuwerten. Und natürlich wisse ein Bauforscher wie jeder Historiker zeitgenössische Darstellungen und Chroniken zu nutzen.

"Über die notwendige Behausung von Menschen und Haustieren, den Schutz von Vorräten hinaus erfüllten Bauwerke grundlegende Funktionen in der Ordnung der Gesellschaft, [...] vor allem in der Organisation und Repräsentation von Herrschaft und Religion. [...] Kirche und Wohnhaus, Kloster und Burg bildeten in der Tat leicht verständliche Gegensätze." Damit ist das Thema für die erste Hälfte des Buchs angesagt: die Funktion sakraler und profaner Architektur. Die Besprechung der Form folgt im zweiten Teil.

Bei der prägenden Bedeutung des Christentums für das Mittelalter stehen am Anfang geradezu zwangsläufig die Sakralbauten und vor allem ihr prominentester Typus: die Kirche. Erstaunlicherweise war deren Architektur keineswegs von den Aspekten der Liturgie, sondern von künstlerisch- ästhetischen Traditionen geprägt. "Im Gegensatz zu den Sakralbauten anderer Religionen war die Gestalt der Kirchen von frühchristlicher Zeit an bemerkenswert vielfältig." Welche Frage auch immer dem Leser in der steinernen Kulisse eines mittelalterlichen Gotteshauses schon in den Sinn gekommen sein mag, in diesem Buch verbirgt sich vermutlich die Antwort. Sofern er die richtige Frage stellt und vor Begriffen wie "Sanktuarium" oder "Lettner" nicht zurückschreckt.

Nach "Kloster und Stift" und den "Bauten der jüdischen Gemeinden" widmet sich der Autor Konstruktionen mit profaner Funktion. "Bauten weltlicher Herrschaft" fallen durchaus unterschiedlich aus, je nachdem, ob ihr Auftraggeber als König, Fürst oder Bischof ein größeres Gebiet regierte und demgemäß zwischen diversen Pfalzen, Schlössern und Residenzburgen pendelte oder ob er dem niederen Adel angehörte, dessen Burgen bescheidener ausfielen – aber so zahlreich sind, dass sie heute unser Bild von der trutzigen Burg prägen. Das Kapitel schließt mit den vielfältigen Bauten in Stadt und Dorf, seien es die Ummauerungen mit ihren Stadttoren, die Residenzen der Vögte, die Rathäuser der bürgerlichen Stadtregierung, die Zehntscheuern und Zunfthäuser oder die einfachen Mühlen.

In einem zweiten Ansatz der Kategorisierung unterscheidet Untermann die mittelalterliche Architektur nach "Bauformen und Bautechnik". Hier erklärt er Holz- und Steinbau sowie die "Haut des Bauwerks", angefangen von der Gewinnung des Baumaterials, seinem Transport und Vertrieb, über Phasen der Vorbereitung und Verarbeitung bis hin zu den bautechnischen Anforderungen.

So wurde Mauerwerk stets zweischalig hochgezogen: Zwischen einer äußeren und einer inneren Wand befand sich ein Kern aus preiswertem Steinmaterial, durchsetzt mit Kalkmörtel. Von der Luft abgeschlossen benötigte dieser lange, um abzubinden. Das Mauerwerk größerer Gebäude musste deshalb durch zusätzliche Holzanker, Eisenstifte und -klammern stabilisiert werden. Auch die häufig anzutreffenden Bögen über Maueröffnungen, ob Fenster oder Portal, hatten solche Funktion: Sie leiteten die Kräfte der aufliegenden Steine zu den Seiten hin ab. Zu einer eigenen Kunstform wurde dies in der Gotik durch das filigran wirkende Strebewerk der Kathedralen, die wohl schönste Ausprägung mittelalterlicher Architektur.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 4/2010

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