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Keine Macht den Stimulanzien

Alle Welt redet über Hirndoping. Medienberichte vermitteln den Eindruck, insbesondere vom Bologna-Prozess geplagte Studierende griffen mittlerweile routinemäßig zu verschreibungspflichtigen Medikamenten, um sich für Prüfungen das entscheidende Plus an geistiger Leistungsfähigkeit zu verschaffen. Doch wie verbreitet ist dieses Phänomen wirklich?

Für Deutschland gab es bislang keine repräsentativen Zahlen dazu, wie häufig Studierende und Schüler pharmakologisches Hirndoping betreiben. Dieser Frage widmete sich der Psychiater Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Mainz, in einer Studie. Nun gewährt er in diesem Buch einen ersten Blick auf die Ergebnisse.

Lieb und seine Mitarbeiter befragten 1000 volljährige Schüler von Gymnasien und Berufsschulen sowie 500 Studierende der Fächer Medizin, Pharmazie und Betriebswirtschaft zu ihrem Umgang mit leistungssteigernden Medikamenten. Die Auswertung ergab: Ein bis zwei Prozent der Teilnehmer – der Studierenden ebenso wie der Schüler – hatten sich mindestens einmal in ihrem Leben mit Stimulanzien gedopt. Dazu zählen zum Beispiel Amphetamine, Modafinil oder Methylphenidat, besser bekannt als ADHS-Medikament unter dem Handelsnamen "Ritalin".

Doch ohne triftigen therapeutischen Grund, so Lieb, solle niemand die heute verfügbaren Psychopharmaka schlucken, der nicht einen fragwürdigen Zuwachs an geistiger Leistungsfähigkeit mit einem unwägbaren Risiko von unerwünschten Nebenwirkungen erkaufen will. Diese Warnung begründet der Psychiater ausführlich, indem er die insgesamt ernüchternden Forschungsergebnisse zusammenfasst, die zur Wirkung von Stimulanzien, Antidepressiva und Antidementiva bei gesunden Menschen vorliegen.

Von 1500 befragten Schülern und Studierenden haben weniger als zwei Prozent Hirndoping betrieben

Der Autor belässt es nicht bei der Entzauberung von Präparaten, die sich trotz mangelnder wissenschaftlicher Belege einen Ruf als smart pills oder happy pills erworben haben. In zwei der neun Kapitel wagt Lieb einen Ausblick in die Zukunft. Zum einen dämpft er dabei Hoffnungen auf eine baldige Entwicklung von Wirkstoffen, die die mentale Leistung deutlich steigern und gleichzeitig gut verträglich sind. Zum anderen diskutiert er im letzten Kapitel die Frage, welche Maßnahmen künftig den Missbrauch von Medikamenten regulieren sollten. Weil Lieb Hirndoping weder für machbar noch für wünschenswert hält, zielt Regulierung für ihn letztlich auf Eindämmung. Die jüngst erschienenen Stellungnahmen von Expertengruppen, die unter bestimmten Voraussetzungen eine liberale Haltung zum Hirndoping empfehlen (siehe G&G 11/2009, S. 40), hält Lieb letztlich für verantwortungslos.

Die Fakten zum Thema Hirndoping stellt er gut dar, die Begründung seiner ethischen Position zum Thema überzeugt dagegen weniger – beispielsweise, wenn es um die möglichen sozialen Folgen des Hirndopings geht. Einerseits entkräftet Lieb den Einwand, die Zweckentfremdung von Medikamenten könne künftig zu wachsender Ungerechtigkeit in Wettbewerbssituationen führen: Zu Recht verweist er darauf, dass man auch viele andere Praktiken, mit denen Menschen sich Wettbewerbsvorteile verschaffen, verbieten müsste, wollte man Hirndoping aus Sorge um die gesellschaftliche Chancengleichheit unterbinden. Andererseits vertritt Lieb aber die Position, man solle Menschen davor bewahren, Hirndoping gegen ihren eigentlichen Willen betreiben zu müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben.

Erstaunlich ist hieran, dass das gleiche Argument, das Lieb gegen die Fairness-Bedenken geltend macht, an dieser Stelle ebenso greifen würde: Auch jetzt sind wir schon permanent "gezwungen", neue Techniken und Praktiken zu übernehmen, selbst wenn dies mit Kosten und teils unbekannten Risiken verbunden sein mag. Angesichts des Anspruchs, den Lieb selbst für sein Buch formuliert, kann man über manche Schwäche zum Thema Ethik hinwegsehen: Er will keine einfachen Antworten, sondern Denkanstöße geben. Der Autor bietet umfassende Informationen, auf deren Grundlage sich der Leser eine eigene Meinung zum Thema Hirndoping bilden kann.
  • Quellen
Gehirn&Geist 7–8/2010

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