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Alter Zankapfel

Es handelt sich um eines der größten intellektuellen Abenteuer der Wissenschaft: das Einfügen des menschlichen Geistes und des Bewusstseins in das Naturgeschehen. Die Diskussion darüber währt schon lange, denn immer wieder rufen neue Forschungsergebnisse aus den Labors von Psychologen und Hirnforschern die Eingeweihten auf den Plan. Christian Geyer, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat nun die kontroversen Aufsätze führender Experten in einem Band zusammengefasst.

Mit dem "Manifest" (Gehirn&Geist 6/2004) traten einige renommierte Neurowissenschaftler im Herbst 2004 an die Öffentlichkeit und erhoben die Naturalisierung des Geistes zum Forschungsprogramm. Sie wagten den Vorstoß zur Lösung eines zwar zentralen, doch traditionell eher in den Geisteswissenschaften angesiedelten Problems – der Frage der Willensfreiheit. Seit Jahrhunderten wird sie aus allen Perspektiven beleuchtet: von Deterministen, die eine Allgemeingültigkeit der Naturgesetze betonen, wie von Indeterministen, welche die Möglichkeit freier Entscheidung verteidigen. In Geyers Buch machen sich zunächst die Vertreter der empirischen Hirnforschung daran – allen voran Wolf Singer, Gerhard Roth und Wolfgang Prinz –, den alten Zankapfel Willensfreiheit mit experimentellen Mittel zu gewinnen.

Wolf Singer zeigt sich hier ganz zuversichtlich und seine Argumentation ist wissenskundig und philosophisch sensibel. Tatsächlich wäre es nicht das erste Mal, dass ein altes metaphysisches Problem nach seiner empirischen Transformation in eine neue Form überführt wird. Dabei macht sich der Hirnforscher die von den meisten Philosophen als materialistisch-reduktionistisch empfundene Lösung nicht leicht und lässt erkennen, dass er die Bedenken der Traditionalisten kennt. Zu Singers folgenreichsten Schlüssen gehören wahrscheinlich die Erwägungen und Empfehlungen für die Rechtsprechung. Hier wird klar, dass die gefürchtete Anarchie in der Rechtsethik auf Grund eines durchgängig angewandten Determinismus keiner Rede wert ist. Vielmehr wäre Prävention angebracht, nicht etwa Entrüstung oder metaphysisches Pathos, um kriminellen Schaden von der Gesellschaft abzuwenden. "Keiner kann anders, als er ist", meint Singer.

Kontroverse Diskussion

Der Neurowissenschaftler Gerhard Roth wendet sich in seinem Beitrag außerdem entschieden gegen die ehernen Zuständigkeitsgrenzen von Philosophie und Neurowissenschaften. Und das mit Recht: Denn auch der trotzigste Metaphysiker kann heute nicht mehr leugnen, dass alles mentale Geschehen im Gehirn abläuft. Und so darf der Neurologe kompetent und zuständig die Nichtexistenz der Willensfreiheit behaupten, ohne sich dafür beim Philosophen entschuldigen zu müssen.

Eine Schlüsselrolle nehmen in den weiteren Stellungnahmen die Experimente des amerikanischen Neurophysiologen Benjamin Libet ein, die Geyer dem Sammelband übrigens beigelegt hat. Libets Arbeit über die Illusion "freier Wille" aus dem Ende der 1970er Jahre hat bis heute wie kaum eine andere in den Neurowissenschaften Kontroversen und unterschiedliche Interpretationen hervorgebracht. Heute wird sie – auch von den meisten Autoren im Sammelband – in dem Sinne gedeutet, dass Handlungen in anonymer, ichloser Weise vom gesamten neuronalen System vorbereitet werden, ehe der Willensentschluss einer Person meint, die Handlung verursacht zu haben.

Die Philosophin Bettina Walde spricht in ihrem Artikel auch über die wichtige und von Neurobiologen gelegentlich übersehene Möglichkeit, Handlungsfreiheit und universellen neurologischen Determinismus zu verbinden. Eine nicht zu vernachlässigende Gruppe von analytischen Philosophen hatte ja schon immer die Vereinbarkeit von Freiheit und Verantwortung für Handlungen verteidigt. So war etwa der Philosoph R.E. Hobart schon 1934 der Ansicht, dass der Determinismus im Sinne einer starken Kausalstruktur notwendig sei, um jemanden als Täter seiner Taten identifizieren zu können.

Auch die Bedenkenträger einer neurobiologischen Behandlung des Freiheitsproblems kommen bei Geyer nicht zu kurz. Und genauso ist es gut, dass alle Verwechslungen, Kategorienfehler und semantischen Verschiebungen bedacht werden, ehe sich jemand für einen naturalistischen Reduktionismus entscheidet. Insgesamt bietet der Band einen interessanten und lehrreichen Überblick über die Auseinandersetzungen zum Thema Willensfreiheit. Wahrscheinlich ist die Zumutung der Neurobiologen, auf diese Freiheit zu verzichten, nicht die letzte der Freud'schen Kränkungen der Eitelkeit des Menschen.
  • Quellen
Gehirn&Geist 3/2005

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