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Homer gehört nicht nur den Humanisten

Thomas Szlezák, emeritierter Professor für Klassische Philologie in Tübingen, ist ein exzellenter Homer-Kenner. In seinem neuen Buch bietet er vielfältige und aufschlussreiche Einblicke in die philologische Forschung, die sich mit den klassischen altgriechischen Großepen "Ilias" und "Odyssee" befasst.

Man muss allerdings beachten, dass Szlezák zu seinem Thema recht konservative Ansichten vertritt. So geht er von der Überzeugung aus, dass das Abendland die bisher höchste geistige Entwicklungsstufe der Menschheitsgeschichte erreicht habe, und versteht Homer als einen Schöpfer und Vermittler dieser abendländischen Werte: etwa der individuellen Persönlichkeit, der geistigen Freiheit und der aufgeklärten Vernünftigkeit. Diese Position, die auf den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) zurückgeht, ist längst nicht mehr Konsens unter den Kulturwissenschaftlern. Dagegen steht die Auffassung, dass ein einheitlicher, an der abendländischen Klassik orientierter Maßstab den Wert und damit auch die Eigenart fremder Sprachen und Literaturen nicht erschließen kann.

Auch über viele Einzelfragen zur homerischen Dichtung kann man unterschiedlicher Auffassung sein; aber auf diese geht der Autor kaum ein. Das erste Kapitel beschreibt knapp – und keinen Widerspruch duldend – die Geschichte der Überlieferung und gibt Erklärungen zur Datierung der Dichtung und zu ihrer Herkunft aus einer längeren mündlichen Erzähltradition, sowie zu Herkunft und Alter der Troja-Sage. Hier findet sich auch die erste Verteidigung Homers gegen seine Kritiker, deren früheste bereits aus der Antike stammen. Sie und ihre Nachfolger, so Szlezák, hätten den Text einfach nur nicht richtig und gründlich gelesen.

Diesem philologisch genauen Lesen sind die beiden umfangreichen Hauptkapitel "Ilias" und "Odyssee" gewidmet. Beide beginnen mit einer Zusammenfassung der Handlung und behandeln dann die verschiedenen literarischen Formen, die fü;r beide Epen charakteristisch sind. Darauf aufbauend interpretiert Szlezák einzelne ausgewählte Szenen. Zum Schluss gibt er einen Einblick in das "Weltbild" des jeweiligen Epos und bewertet seine Bedeutung sowie seinen "Anspruch", das heißt den Maßstab, den es nachfolgenden Generationen setzte.

Nur die "Ilias" kann nach dieser Analyse von Form und Inhalt als im eigentlichen Sinn vollkommen gelten und damit "Homer" zugeschrieben werden. Mit seiner Darstellung des vielschichtigen Aufbaus der Handlung gibt Szlezák den heutigen Lesern einen sehr hilfreichen Leitfaden. Aber auch hier ist man ständig mit den für dieses Buch charakteristischen Werturteilen beschäftigt.

Die Darstellung der "Odyssee" ist von wertenden Vergleichen geradezu durchdrungen. Den Autor der "Ilias" preist Szlezák als einen genialen Dichter, der sich aus einer älteren mündlichen Tradition, einer archaischen, gar primitiven Vorstufe der Heldendichtung emanzipiert habe. Zum ersten Mal habe er das menschliche Dasein in seiner Fülle, die individuelle Persönlichkeit in ihrer Entscheidungsfreiheit und der damit verbundenen Tragik dargestellt. Dagegen habe der Dichter der "Odyssee" lediglich versucht, "ein Großepos in der Manier und dem Anspruch der Ilias zu schaffen"; dieses Werk minderer Qualität könne nicht vom selben Autor stammen. Solche Wertungen unterstützen den Leser nicht unbedingt dabei, "Homer mit Genuß zu lesen und zu verstehen", wie der Text auf dem Rückendeckel verspricht!

Ähnliches gilt fü;r den oberflächlichen Exkurs in die altorientalische Literaturgeschichte, den das letzte Kapitel bietet. Das ältere mesopotamische "Gilgamesch-Epos" sei zwar für sich betrachtet in Teilen "großartig", verkörpere aber nur eine geistesgeschichtliche Vorstufe, die nicht zum Verständnis der homerischen Dichtung beitrage.

Wer über eine klassische Bildung und entsprechendes Vorwissen verfügt, wird dieses Buch mit Gewinn lesen können. ür alle anderen empfiehlt sich die vorherige und begleitende Lektüre der "Ilias", vorzugsweise in der modernen Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt (1900-1974), die in dessen Todesjahr erschienen ist. Auf ihn geht auch Szlezáks Darstellung zurück. Die von Schadewaldt in den "Iliasstudien" von 1943 veröffentlichte Analyse der "Bauformen" der "Ilias" hat bis heute Bestand.

Schadewaldt hat jedoch auch das moderne humanistische Menschenbild in den Text hineininterpretiert, und Szlezák folgt ihm darin. Das ist keineswegs zwingend. Heute sind verschiedene Deutungen zulässig, auch solche, die an frühere und "primitivere" Traditionen anknüpfen.

Diese sind dem heutigen Leser auch ohne philologische Vorbildung zugänglich. Homers Sprache ist gegenständlich, reich an Bildern und von einer emotionalen Wucht, der jeder folgen kann. Die Übersetzung des Archäologen Roland Hampe (1979) bietet eine Interpretation mit eigenwilliger Wortwahl. Noch kreativer und noch poetischer ist Raoul Schrotts Iliasübertragung von 2008. Sie gibt ungewöhnlich direkt und bildhaft konkret wieder, wie der archaische Dichter mit großer emotionaler Intelligenz die menschlichen Dinge ganz einfach zum Ausdruck gebracht hat.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 09/2013

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