Wider das Faktum
Wer glaubt, überprüfbare Fakten und feste Wahrheiten machten den wissenschaftlichen Fortschritt aus,der irrt, so Stuart Firestein. Der Neurowissenschaftler forscht und lehrt an der Columbia University in New York und organisiert eine ungewöhnliche Vorlesungsreihe: Er lädt Wissenschaftler verschiedener Disziplinen ein, über die offenen Fragen ihres Fachs zu berichten.
Firestein will den Blick auf die "Ignoranz" lenken, in der er die eigentliche Triebfeder der Wissenschaft sieht. Denn hinter der öffentlich verbreiteten Fixierung auf Tatsachen stehe ein grundlegendes Missverständnis. Nur wer akzeptiere, dass die Fragen der Wissenschaftler bedeutsamer seien als ihre Antworten, komme dem Kern der Sache nahe.
Der Autor illustriert seine These an Beispielen aus der Physik, Mathematik, Verhaltensforschung und Neurobiologie. Dabei macht er deutlich, wie reich an Irrtümern die Forschungsgeschichte ist. Beispiele hierfür sind etwa die Lehre der Phrenologen, die an der Schädelform von Menschen deren Charaktereigenarten zu erkennen glaubten, oder die Mär von den "Geschmackszonen" auf der Zunge.
Im Plauderstil führt uns der Autor durch den Wissenschaftsbetrieb, präsentiert bedeutende Persönlichkeiten und ihr wichtigstes Handwerkszeug: das kreative Fragenstellen. Überwiegend bezieht er sich auf verstorbene Genies wie Albert Einstein, Kurt Gödel oder Charles Darwin. Erst im letzten Kapitel geht er auf aktive Forscher ein, etwa auf die Kognitionspsychologin Diana Reiss, die Bewusstsein bei Tieren untersucht. Warum dieser Abschnitt mit des Autors eigenem Werdegang endet, erschließt sich nicht.
Leider erscheint Firesteins Plädoyer häufig klischeehaft. So stellt er den "idealen" Wissenschaftler als einen von reiner Neugier Getriebenen dar, der von früh bis spät im Labor arbeitet, immer auf der Suche nach neuen, unbekannten Ufern. Nur ganz am Rand erwähnt er die teils ernüchternden Rahmenbedingungen: prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Veröffentlichungsdruck, methodische Mängel bis hin zur Datenmanipulation.
Grundlagenforschung zeichne sich durch Unvorhersehbarkeit aus, betont Firestein. Darauf das Augenmerk zu lenken, ist löblich in Zeiten, in denen die Wissenschaft mehr denn je unter dem Primat der (ökonomischen) Verwertbarkeit steht. Doch wenn er den Wunsch äußert, Laien mögen sich an der Wissenschaft erfreuen wie an Sportveranstaltungen, beschleichen einen Zweifel. Ein Elfmeterschießen im WM-Finale weckt bei den meisten Menschen zweifellos mehr Emotionen als das Ergebnis einer Massenspektrometrie.
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