Der unsichtbare Massenmörder - eine Spurensuche
"Der Anblick übertraf jedes Schlachtfeld", schreibt ein Arzt im Herbst 1918. Zeugen erzählen von Bildern, die sie nie vergessen konnten. Doch obwohl über 20 Millionen Tote zu beklagen waren und fast jede Familie dieser Erde einen Angehörigen verlor, ging dieses Ereignis kaum in die Geschichte ein. Vielleicht weil der Massenmörder selbst unsichtbar blieb: Es war der Virus der spanischen Grippe. Doch er hinterließ eine Spur des Schreckens: Er kam wie ein Schnupfen und erstickte seine Opfer – junge und bis dahin auffallend gesunde Menschen – innerhalb weniger Tage. Diese Tragödie dient als Hintergrund für das soeben auf Deutsch erschienene Buch "Influenza" von Gina Kolata. Wie in jedem guten Krimi ist in diesem Sachbuch weniger die eigentliche Tat, sondern vielmehr die Feinarbeit der Detektive das Thema der Erzählung: der Versuch der Wissenschaftler, noch Jahrzehnte nach der Epidemie dem Virus auf die Spur zu kommen. Denn falls der Mörder nochmals zuschlägt, wollen sie gewappnet sein. Nur wenn sie ihn kennen, können sie rechtzeitig warnen bzw. einer neuen Katastrophe vorbeugen. Thema des Buches ist also ein Wettlauf – ein Wettlauf gegen die Zeit und die Konkurrenz. Um die Welt vor dem Verderben zu retten, benötigen die Forscher den genetischen Code des Virus. Sie wollen herausfinden, was den Grippeerreger so außergewöhnlich tödlich macht, und einen Impfstoff entwickeln. Doch um einen frischen (genetischen) Fingerabdruck zu bekommen, brauchen sie den Täter – und das ist über 80 Jahre nach der Tat kein einfaches Unterfangen. Drei Forscher machen sich mit recht unterschiedlichen Methoden ans Werk und suchen nach „gut erhaltenen“ Opfern. Doch noch während die Arbeiten auf Hochtouren laufen, scheint der Mörder 1997 erneut zuzuschlagen ... Gina Kolata erlaubt dem Leser einen Blick hinter die sonst aus Sicherheitsgründen gut verschlossenen Labortüren. Das macht ihr Buch besonders für solche Leser empfehlenswert, die sich – neben der Geschichte der Medizin – auch für Mikrobiologie interessieren. Mit verständlichen Worten beschreibt die Autorin die komplizierte (Labor-) Welt der Wissenschaftler. Selbst an Stellen, an denen es manchen Lesern zu „wissenschaftlich" werden könnte, trägt die Spannung weiter. Humorvoll karikiert Kolata die skurrilen Seiten der Forschung – bzw. der Forscher. Voller Ernst dagegen beschreibt sie den im Fall „Influenza“ erstaunlich kurzen Weg von den Ergebnissen im Labor zu den Entscheidungen der amerikanischen Regierung. Damit könnte das Buch die Diskussion, in wie weit die Öffentlichkeit bzw. die Medien über die Arbeit von Wissenschaftlern informiert werden soll, neu beleben. Als Mikrobiologin und Wissenschaftsjournalistin ist Gina Kolata für diese Vermittlerrolle prädestiniert. Für ihre Artikel wurde sie mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Ob sich die Wissenschaftler im Laufe der Geschichte zusammentun und die Welt vor der nächsten Epidemie bewahren? Das Ende soll hier nicht verraten werden – und kann es im Grunde auch nicht, denn der Krimi geht weiter: im wirklichen Leben!
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